Der Unvergessliche

Für den Fotografen und Reiseschriftsteller Willi Dolder ist Kenia eine zweite Heimat. Schon seit vielen Jahren reist er immer wieder ins östliche Afrika, um die Natur und Tierwelt zu fotografieren. Aber auch die Menschen sind ihm in dieser Zeit ans Herz gewachsen. Einer von ihnen ganz besonders.

Ausgabe: 126    Text und Fotos: Willi Dolder

«Willi! Dein Freund Simon ist gestern Nacht gestorben. Sein Haus fing Feuer.» Auch jetzt, gut drei Monate nach dieser schrecklichen Nachricht, die mich aus Kenia erreichte, kann ich kaum glauben, dass mein alter Massaifreund nicht mehr lebt und wir keine gemeinsamen Fahrten durch Busch, Savanne und Wüste mehr unternehmen können.

Vor genau 32 Jahren lernte ich Simon kennen, als ich an einem Augusttag in die Masai Mara fuhr, um eines der grössten Spektakel der Tierwelt zu fotografieren: die alljährlich stattfindende Wanderung der Gnus, Zebras, Topis und Thomson-Gazellen von der Serengeti-Savanne in das kenianische Naturschutzgebiet Masai Mara. In Ewaso Ngiro, einem unscheinbaren, staubigen Dörfchen 20 Kilometer westlich der Provinzhauptstadt Narok, hielt ich an, um mich nach dem Zustand der Strasse zu erkundigen. Aus einem der vielen Souvenirshops entlang der Strasse kam ein Mann auf mich zu und sagte: «You need me for good game drives!» Der junge Massai, der sich selbstbewusst als Guide für Pirschfahrten anpries, hiess Simon. Es war der Beginn unserer lebenslangen Freundschaft.

Simon war der beste Wildspäher, den ich in gut 50 Afrikajahren hatte. Und er war mehr: ein Freund, der ohne zu zögern sein Leben für mich hergegeben hätte, der mich auf abenteuerlichen Reisen quer durch Kenia und das nördliche Tansania begleitete, der schaute, dass wir immer den richtigen Weg fanden und am Abend eine sichere Unterkunft. Und einen Teller voller Mbuzi, Ziegenfleisch, das wir beide heiss und innig liebten. Er war einer, der in unsicheren Gegenden vor meinem Landcruiser Wache hielt, wenn ich schlief. Simon lehrte mich viel über die Kultur der Massai und über das Verhalten der Tiere. Wenn unser Wagen einen Plattfuss oder sonst eine Panne hatte, dann sorgte er dafür, dass unser Fahrzeug wieder flott wurde.

Unsere Freundschaft mag sich wie Friede, Freude, Eierkuchen anhören – doch genau das Gegenteil war der Fall. Wir gingen uns regelmäs­sig, spätestens nach drei Tagen gemeinsamer Reise, fürchterlich auf die Nerven und stritten wie ein altes Ehepaar. Das veranlasste Simon eines Abends, als wir im Busch unser Lager errichteten, zum Ausruf «Bapa you are an old warrior!» (Papa, du bist ein alter Krieger!). Simon seinerseits war, um es undiplomatisch auszudrücken, ein veritabler Kotzbrocken. Er war mein Alter Ego im Sinne Ciceros, der vor mehr als 2000 Jahren schrieb:«Ein wahrer Freund ist gleichsam ein zweites Selbst.»

Simon besass wie viele Massai diktatorische Wesenszüge, wie sie seine Stammesgenossen gegenüber allen anderen Menschen, die nicht ihrer Ethnie angehören, zeigen, denn sie halten sich für das von Gott erwählte Volk und somit für berechtigt, sich dem Rest der Menschheit überlegen zu fühlen. Jetzt, nachdem Simon wohl im Massaiparadies – das aus saftig grünen Savannen und sanften Hügeln, in denen Rinderherden weiden, bestehen mag – seinen Frieden gefunden hat, tauchen in meinem Kopf zahlreiche Erinnerungen an gemeinsame Momente auf, die manchmal absurd, oft lustig, gelegentlich gefährlich, aber immer einzigartig waren.

Als ich im Dezember 2015 in die Masai Mara fuhr, hielt ich natürlich in Ewaso Ngiro an und erkundigte mich nach meinem Freund Simon, den ich zwei oder drei Jahre lang nicht mehr gesehen hatte. Seine Kumpels stöberten ihn irgendwo draussen im Busch auf, wo er Brennholz für seine Hütte sammelte. Wir fielen uns in die Arme, und Simon sagte «Bapa, in fünf Minuten bin ich abfahrbereit.» Dann sah er, dass in meinem zweisitzigen Landcruiser ein weibliches Wesen sass, und sein Gesicht verzog sich. «Bapa, was willst du mit der Bibi (Suaheli für Frau/Gemahlin)? Sie kann sicher nicht einmal einen Löwen von einem Büffel unterscheiden!» – «Simon, die nächste Safari machen wir wieder miteinander», versuchte ich ihn zu besänftigen. «Wann? Wohin?» – «Wie wäre es mit der Chalbi-Wüste, Simon?» – «Gut, Bapa, dann lass uns in die Chalbi fahren. Nächste Woche.»

Es dauerte dann zwar etwas länger, bis wir zusammen losfahren konnten, denn in South Horr und in Baragoi gab es wieder einmal Unruhen zwischen Samburus, Turkanas, Somalis, Gabras und Rendilles. Ein paar Männer wurden erschossen, und einige Rinderherden wechselten die Besitzer – ein paar Frauen ebenfalls, aber das war in den Augen der beteiligten Männer weit weniger schlimm als Viehdiebstahl.

Ende Februar trafen wir uns an den Thompson’s Falls und fuhren von dort aus nordwärts, der wilden, noch immer weitgehend unerschlossenen Chalbi-Wüste entgegen.

Es gibt kaum etwas Schöneres als afrikanische Märkte. Besonders interessant und lebhaft sind Viehmärkte, die in vielen Dörfern einmal pro Woche stattfinden. Wir hatten Glück: Als wir Rumuruti erreichten, landeten wir mitten in einem Viehmarkt, den ich von allen Seiten fotografieren wollte. Mehrmals kamen deswegen Massai auf mich zu und liessen ihrem Unmut freien Lauf. Sie haben im Grunde genommen nichts gegen das Fotografieren – vorausgesetzt, man lässt einige Schilling springen. Simon war gleich wie eine Glucke zur Stelle und erklärte seinen Stammesgenossen, der «Mzungu» (Suaheli für Fremder/weisser Mann), der im Übrigen kein Mzungu, sondern selbst ein Massai sei, habe zu Hause auch «mingi sana» (viele Kühe) und er mache diese Bilder, um sie ihnen zu zeigen. Die Jungs zweifelten nicht an seinen Worten, sondern forderten mich auf, eine besonders schöne Kuh auf den Chip zu bannen.

Simon zog mich anschliessend am Ärmel über den Markt zu einigen bunt geschmückten, mit Glasperlen behangenen Mädels. «Das ist nicht nur ein Viehmarkt, sondern auch eine Heiratsbörse», sagte er. «Gefällt dir eine?» Die Ladys musterten mich ohne die geringsten Hemmungen von oben bis unten. Gut, trug ich nicht wie die Massai Tücher um die Lenden und Schultern. Ich zweifle nicht daran, dass die Interessentinnen diese Tücher gelupft und sich vergewissert hätten, ob der Weisse etwas darunter trug. Simon konnte nicht begreifen, dass mich keine der Bräute in spe antörnte, und vermutete: «Bapa, du fotografierst zu viel.» Feinfühlig fügte er noch an: «…oder du bist zu alt für die Liebe.»

 

Wie geht die Geschichte weiter?

Simon startet noch mindestens zwei weitere Verkupplungsversuche und bringt Willi zu den «Heiligen Fünf Bäumen» der Massai – dabei geht ihm der mitgenommene Medizinmann allerdings wortwörtlich auf die Eier. Es kommt aber noch schlimmer: Der geländegängige Landcruiser versinkt im Morast des Natronsees und Willi geht es immer schlechter. Ob die beiden auch dieses Abenteuer schadlos überstehen?

Über den Autor

Willi Dolder wuchs in Schaffhausen auf. Seit er denken konnte, wollte er nach Afrika reisen, foto­­gra­fieren und Bücher machen. Mit 25 besuchte er den Schwarzen Kontinent mit seinem Bruder zum ersten Mal – und seither hat er mehr Zeit im östli­chen und im südlichen Afrika verbracht als in der Schweiz.
In den letzten 50 Jahren veröffent­lichte er gegen 70 Bücher und Bildbände. Im Dezember 2016 ist er ganz nach Kenia gezogen und wohnt in Nanyuki, am Fusse des Mount Kenya. Von dort aus fährt er regelmässig auf ausgedehnte Safaris durch Ostafrika.

www.doldermedia.com

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