«The Best of the West»

Australien zu bereisen, gleicht einer Lebensaufgabe. Allein der westliche Teil des Kontinents ist 61 Mal grösser als die Schweiz. Die Autorin erlebt eine Konfrontation mit schier endloser Weite, mit giftigen Spinnen und mit der schon fast übertriebenen Sorglosigkeit der Aussies.

Ausgabe: Nr. 125     Text & Fotos: Sabine Zaugg

 

In den Augen vieler Australier ist das Reisen mit Helikopter und Kleinflugzeug so normal wie die Fahrt im Pick-up mit hechelnden Hunden auf der Ladefläche. Besonders in Westaustralien, wo Farmen so gross sind wie der ganze Kanton Bern, gehören farmeigene Landepisten einfach dazu. Auch ich entscheide mich für den Luftweg in den Norden Westaustraliens, denn mit dem Auto müsste ich ab Perth über 3000 Kilometer zurücklegen, um in die einsamen Kimberleys zu gelangen.

Das sind ein paar Tausend Kilometer zu viel für mein schmales Zeitfenster. Zudem gibt es noch einen wesentlich wichtigeren Grund für den Verzicht auf Bodenhaftung: Alle Australienkenner und selbst waschechte Aussies raten mir eindringlich davon ab, mutterseelenallein in die Kimberley-Region im Norden zu fahren. Vor allem nicht im Mai nach der Regenzeit. Monsunartige Regenfälle haben in den vergangenen Monaten ausgetrocknete Flussbette und Strassen geflutet. Die wenigen Farmen sind während dieser Zeit von der Aussenwelt abgeschnitten und nur noch via Luftweg erreichbar. Die unasphaltierte Gibb-River-Road verwandelt sich von einer nur mit Allradantrieb passierbaren Sandpiste in einen völlig unpassierbaren Schlammpfad. Diese wenig einladende Strassenprognose wischt sogar meine latente Flugangst beiseite. Ich buche einen Flug von Perth nach Kununurra. Dass ich trotzdem noch ein echtes Schlüsselerlebnis auf Australiens Strassen haben werde, ahne ich zu diesem Zeitpunkt zum Glück noch nicht.

Purnululu-Nationalpark

Der Flughafen in Kununurra ist winzig. Die Stadt selbst nicht viel grösser. Sie versteckt sich hinter den dicken, mit Wasser vollgesogenen Stämmen der Boab-Bäume, die hier die Landschaft prägen. Mit ihrem schwammartigen Stamm hat sich diese Baumart perfekt an die Lebensbedingungen der Kimberley-Region angepasst.

Angepasst wirken auch die Aborigines: Ich treffe sie im Supermarkt und auf den Strassen. Die Kinder gehen zur Schule. Es gibt Galerien, die ihre Kunst verkaufen. Die jüngere Generation findet Jobs in der Tourismusbranche, zum Beispiel als Guides. Aber die Arbeitslosigkeit unter den Aborigines ist hoch. Wie ich noch merken werde, ist das Thema Ureinwohner bei den Australiern immer noch ein heisses Eisen. Je nach Region sind sie besser oder schlechter integriert, je nach Gegend nimmt die Zahl von denen, die in angetrunkenem Zustand in den Parks rumlungern, ab oder zu. Darüber zu sprechen, was die beste Lösung wäre, löst bei den meisten Australiern immer noch starke Emotionen aus, denn die Meinungen sind geteilt.

Ich bin aber nicht wegen der Politik oder dem beschaulichen Kleinstadtambiente hier, sondern wegen uralter Steintürme. Die bienenstockförmigen Felsformationen der «Bungle Bungle Range» liegen so abgelegen in der Wildnis, dass sie erst in den Achtzigerjahren per Zufall von einem Buschpiloten entdeckt wurden. Seit 2003 gehören sie zum UNESCO-Welterbe. Um zu ihnen zu gelangen, fliege ich ab Kununurra noch einmal einige Hundert Meilen südwärts ins Herz der Kimberley-Region.

Man spürt die Magie dieses Ortes schon aus der Luft: Hunderte Sandsteinkuppeln erheben sich aus der Ebene wie Maulwurfhügel auf einer Wiese. Die Gegend ist für die Ureinwohner heilig. Früher haben sie hier Zeremonien abgehalten – heute führen indigene Guides Touristen durch den Purnululu-Nationalpark, zu dem auch die «Bungle Bungle Range» gehört. Aus dem Fenster meines Kleinflugzeugs erlebe ich die ganze Szenerie aus der Vogelperspektive und fühle mich angesichts der schier endlosen Weite winzig klein.

Gekonnt landet der Pilot auf der roten, schmalen Sandpiste. Links und rechts erstreckt sich, soweit das Auge reicht, karges Eukalypten- und Akazien-Buschland. Die wenigen Passagiere verabschieden sich mit Handschlag voneinander und eilen zu den drei oder vier Fahrzeugen, die neben der Piste parkiert sind. Auch auf mich wartet bereits jemand. Ich habe nämlich nicht vor, alleine durch die Wildnis zu wandern und mit ratlosem Gesicht vor den Kulturstätten der Aborigines zu stehen. Deshalb habe ich eine Tour mit Jen und Koyla gebucht, die mir mehr über diese Gegend verraten werden. Jen kommt aus Melbourne und arbeitet zum ersten Mal eine Saison, also von Mai bis September, als Touristenführerin. Zu ihren Aufgaben gehört auch das Fahren des monströsen Outback-Vehikels, mit dem wir auf der welligen Sandpiste zu den «Bungle Bungle» fahren. Die Mittfünfzigerin hat den Bus gut im Griff. Weniger gut im Griff hat sie hingegen das Heimweh nach ihrem Mann. Doch sie ist fest entschlossen, die Saison hier oben in der Wildnis zu packen.

Koyla hat sich auf dem Rücksitz breitgemacht. Er ist ungefähr 30 Jahre alt und Stammesmitglied eines hiesigen Aborigine-Clans. Er erzählt mir mit strahlend schwarzen Augen, wie gerne er mit seinen beiden Hunden auf Echsenjagd geht. Ein Foto auf seinem iPhone dient als Beweis für sein Jagdglück.

Nach dem Gespräch wendet sich Jen an mich: «Hast du bemerkt, dass Koyla dir nicht lange in die Augen geschaut hat? Das ist Teil seiner Kultur und zeigt Respekt vor dem Alter.» Ich weiss nicht, ob ich mich jetzt geehrt oder beleidigt fühlen soll, denn so viel älter bin ich nun auch wieder nicht. Offenbar nehmen es die Aborigines sehr genau. Später erfahre ich auch von ihrem komplizierten Verwandtschaftssystem, bei dem beispielsweise alle Schwestern der Mutter ebenfalls als Mutter bezeichnet und die Brüder des Vaters auch als Väter angesehen werden. Auch die Cousins sind ganz einfach Brüder und Schwestern.

Wir erreichen den Parkplatz und gehen von dort zu Fuss weiter. Die «Bungle Bungle» sind auch von unten betrachtet wahre Steinschönheiten. Weil sie porös und daher empfindlich sind, darf man nicht hochklettern. Wir wandern auf schmalen Pfaden immer tiefer in das von Schluchten durchzogene Felsgebirge hinein. Unser Ziel ist die «Cathedral Gorge», eine riesige Höhle. Unterwegs finden wir wilde Passionsfrüchte, die köstlich schmecken. Koyla zeigt mir die «Green Bird Flower», eine Pflanze aus der Familie der Hülsenfrüchtler, deren Blüte die Form eines Kolibris hat. Es ist faszinierend, ihm zuzuhören und zu spüren, wie gut er diese Gegend kennt. Beschämt denke ich an die Alpenkette vor meiner Haustüre, deren Gipfel ich längst nicht alle mit Namen kenne.

Bei 30 Grad sind bereits zwei Stunden Wanderzeit eine Herausforderung. Doch wir kommen auf dem immer schmaler werdenden Pfad gut vorwärts. Am Ende der Schlucht öffnen sich die roten Sandsteinklippen links und rechts plötzlich wie bei Ali Baba und den 40 Räubern. Statt einer Schatzkammer erblicken wir jedoch eine riesige Höhle mit einem kleinen Teich in der Mitte. Das ist sie, die Kathedrale. Wir lassen die Magie des Ortes auf uns einwirken. Es ist still wie in einer Kirche, jeder kleinste Ton erhält eine wunderbare Resonanz. Es erstaunt mich nicht, das dies für die Aborigines ein heiliger Ort ist. Er zieht auch mich in seinen Bann – schweigend und in Gedanken versunken wandern wir zurück.

Exmouth

Meine bisherige Reise per Flugzeug hat mir Einblick in Gegenden ermöglicht, für die ich im Auto gut zehnmal soviel Zeit benötigt hätte. Doch einen Roadtrip im Land der endlosen Strassen will ich auf keinen Fall verpassen. Deshalb miete ich zurück in Perth einen Campervan, mit dem ich die Westküste hoch bis nach Exmouth will. Das Fahren auf schnurgeraden Pisten ist aufregend und gleichzeitig unerwartet anstrengend, denn man muss höllisch aufpassen, wach zu bleiben.

Die knapp 50 Meter langen Roadtrains sind ebenfalls eine Herausforderung, und die viele toten Kängurus am Strassenrand zeugen von weiteren Gefahren.

Über die Autorin

Sabine Zaugg ist Redaktorin beim Globetrotter-Magazin in Bern. Sie ist gerne im Auto unterwegs, und das vorzugsweise auf einsamen Pisten fernab der Zivilisation, wie beispielsweise in Westaustralien. Wann immer möglich sattelt sie auch auf eine vierbeinige Pferdestärke um und geniesst das langsame Vorwärtskommen.

[email protected]

Wie geht die Reise weiter?

Der Roadtrip durch Westaustralien führt die Autorin zu weiteren Hotspots im Land der Krokodile und Kängurus. Nach einem Schlüsselerlebnis auf der Strasse entdeckt sie nicht nur die fast schon übertriebene Sorglosigkeit der Aussies, sondern auch ihre eigene Gelassenheit. Doch die ist schnell verflogen, als sie in ihrem Badezimmer eine unheimliche Begegnung hat…

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