Reise in die Vergangenheit
Das erste Mal traf der Fotograf Christoph Keller die Hamer als gewöhnlicher Tourist. Es folgte ein weiterer Besuch zusammen mit seinem äthiopischen Freund Geltiy. Dieses Mal tauchte er tiefer in die fremdartige Kultur ein – und blickte gleichzeitig auf seine eigene Vergangenheit zurück. Erst das tragische Schicksal seines Freundes machte ihm deutlich, dass es irgendwann immer auch ein letztes Mal gibt.
Ausgabe: Nr. 121 Text & Fotos: Christoph Keller
An einem heissen Novembertag mache ich mich mit meinem Freund Geltiy auf den Weg zu seinem Heimatdorf. Er ist Stammesangehöriger der Hamer und hat mich eingeladen, seine Familie zu besuchen. Die 700 Kilometer lange Strecke von Addis Abeba bis nach Kaina ist eine langwierige, anstrengende und gefährliche Tortur. Verbeulte und verkohlte Autowracks am Strassenrand zeugen von den Gefahren des Reisens auf äthiopischen Pisten. Nach zwei schier endlosen Tagen erreichen wir zwar unfallfrei, aber erschöpft mitten in der Nacht Turmi nahe der kenianischen und südsudanesischen Grenze. Die letzten Stunden haben wir auf der Ladefläche eines Trucks gehockt.
Turmi liegt im flachen Buschland. Die 1200-Seelen-Gemeinde ist Zentrum des Stammes der Hamer. Es gibt einen Wochenmarkt, ein paar einfache Hotels, eine Schule, eine Polizeiwache, eine Krankenstation und seit Kurzem einen von Chinesen errichteten Mobilfunkmast – und jede Menge Hitze. Die insgesamt 45 000 Hamer, von den übrigen Äthiopiern gern als rückständig belächelt, leben vorwiegend von der Viehzucht. Ausserdem bauen sie Sorghum-Hirse an und gewinnen Honig.
Geltiy Zubo Muko habe ich vor Jahren in Addis Abeba kennengelernt, als er sich als Fremdenführer durchschlug. Als Junge bekam er die Chance, eine Schule zu besuchen. Deshalb spricht er neben seiner Stammessprache auch Amharisch und Englisch. Auf meinen weiteren Reisen durch das ostafrikanische Land begleitete er mich fortan als Guide und Dolmetscher. Mit der Zeit wurden wir Freunde.
Bis nach Kaina, Geltiys Heimatdorf, liegen noch gut drei Kilometer Fussmarsch vor uns. Was würde mich dort wohl erwarten?
Ein Blick zurück
Ich reiste 2007 zum ersten Mal nach Äthiopien, um das Land kennenzulernen, in dem ich beinahe aufgewachsen wäre. Das kam so: Mein Vater hatte Anfang der 50er-Jahre den äthiopischen Kaiser Haile Selassie in der Kino-Wochenschau gesehen, als dieser der noch jungen Bundesrepublik als erster ausländischer Staatsgast einen Besuch abstattete. Der Negus tat kund, er brauche Geld, um das arme Land voranzubringen und Krankenhäuser, Schulen und Universitäten zu bauen. Mein Vater, ein abenteuerlustiger, junger Architekt, setzte sich daraufhin in den Kopf, beim Aufbau Äthiopiens zu helfen. Sein früher Tod machte dieses Vorhaben jedoch zunichte. Ich war drei Jahre alt, als mein Vater starb. Später erzählte mir meine Mutter von seinen Auswanderungsplänen.
Bereits bei meiner ersten Äthiopienreise besuchte ich die Hamer. Allerdings ohne Geltiy dabeizuhaben. Ein Fahrer chauffierte unsere Touristengruppe von Stamm zu Stamm. Wie alle mit einem Bündel druckfrischer 1-Birr-Scheine als Fotohonorar ausstaffiert, gehörte ich zu jenen, die im Geländewagen vorfuhren, für jede Aufnahme zwei Birr (etwa zehn Cent) bezahlten, um anschliessend wieder per Allrad zu verschwinden. Ich fühlte mich damals nicht wohl in dieser Rolle – ich hatte das Gefühl, den Menschen nicht auf Augenhöhe begegnet zu sein.
Von Kaffee und Küssen
Doch diesmal sollte alles ganz anders werden. So hat es mir Geltiy jedenfalls vor Beginn unserer gemeinsamen Reise versprochen. Und wirklich, die Situation mit ihm als Begleiter ist ganz anders: Der Empfang in Kaina fällt herzlich aus, seine Familie zeigt sich überaus gastfreundlich. Zur Begrüssung küsst mir Geltiys alte Mutter die Hand – ich darauf auch die ihre. Bin ich schon ins erste Fettnäpfchen getreten? Solche Fauxpas sind bei den Hamer aber eher unbekannt. Sollte ich versehentlich mal die Stammesetikette verletzt haben, spürte ich nie Verärgerung, sondern vielmehr Verständnis und Neugierde.
Nach der Begrüssung werde ich zu einer Kalebasse Kaffee in die Hütte von Geltiys Bruder Gele eingeladen. Er lebt dort mit seiner Frau Dobo, der Tochter Selaki, den Söhnen Zubo und Aike sowie mit seiner Mutter Gardo. Hinter der Hütte ist ein Gehege für die Rinder und eines für die Ziegen. Die äthiopische Kaffeekultur – das Land ist die Heimat des aromatischen Getränkes – ist einzigartig. Die Hamer brühen ihren «Bunno» jedoch nicht mit den Bohnen auf, sondern mit den Schalen der Kaffeekirsche. Ich gewöhne mich aber von Kalebasse zu Kalebasse an den ungewohnten Geschmack.
Nach dem «Bunno» drückt mir Gele einen Stock in die Hand. Er will die Rinder und Ziegen zur Wasserstelle treiben – ich soll dabei helfen. Zu meinem Glück kennen die Tiere den Weg. Dieser ist allerdings gesundheitsgefährdend. Sträucher und Bäume schützen sich mit spitzen Dornen, Nadeln und Haken – auch vor mir. Eine üble Schramme in Augennähe führt dazu, dass ich aufhöre, den Boden nach giftigem Getier abzusuchen. Es gilt vor allem, Gesicht und Arme vor schmerzhaften Kratzern zu bewahren. Bald sind wir am Ziel – doch der Fluss ist ausgetrocknet! Die Tiere scheinen jedoch nicht sonderlich enttäuscht, denn sie wissen bereits, was jetzt passiert. Gele gräbt ein etwa 50 Zentimeter tiefes Loch. Rasch sammelt sich darin Grundwasser. Alle Tiere kommen zu ihrem Recht, Gele gönnt sich anschliessend ein Sitzbad in der Sandwanne. Zurück im Dorf erfährt der Aushilfshirte unerwartetes Lob: «Er ging langsam, war aber trotzdem schnell», setzt Gele seinen Bruder Geltiy ins Bild.
«Er ging langsam, war aber trotzdem schnell».
Abends versammelt sich die Familie vor der Hütte. Die Männer sitzen auf dem kleinen Holzschemel, den sie stets mit sich tragen. Die Frauen, Kinder und ich nehmen auf ausgebreiteten Ziegenhäuten Platz. Es ist Abendbrotzeit. Dobo sitzt am offenen Feuer und bereitet Sorghum-Hirse zu. Heute gibt es «Munna». Dabei wird die Hirse zu festen und trockenen Wülsten geknetet und gekocht. Sie entziehen meinem von der Hitze ohnehin schon ausgetrockneten Mund auch noch die letzte Feuchtigkeit. Ich kaue langsam, die Familie feuert mich unentwegt an: «Gah, gah, gah» – iss, iss, iss! Eine Kalebasse mit Ziegen- und Kuhmilch erleichtert die Prozedur dann ungemein. Mit einbrechender Dunkelheit versammeln sich immer mehr Menschen vor der Hütte. Freunde und Verwandte kommen auf einen Plausch vorbei. Das Feuer der Kochstelle ist mittlerweile erloschen, in der Dunkelheit sind die Gesichter der Neuankömmlinge nicht zu erkennen. Ich präge mir ersatzweise Stimmen und Gelächter ein. Es ist spät, als ich die gesellige Runde verlasse und zu meinem Zelt hinübergehe.
Urteil des Ältestenrats
Am nächsten Morgen ruft man mich zum Kaffee in die Hütte. Die Schuhe müssen draussen bleiben. Bei meiner Körpergrösse erweist sich das Wort «betreten» als irreführend – ich zwänge mich auf allen Vieren durch den niedrigen Eingang. Der Rauch der Feuerstelle treibt mir rasch die Tränen in die Augen. Der Hausherr erzeugt mit seinen Lippen einen Sprühnebel aus «Bunno»-Kaffee – fein wie aus der Spraydose – und speit ihn in alle vier Himmelsrichtungen, um die Geister milde zu stimmen. Wenn die letzte Kalebasse geleert ist, wäscht sich der Hausherr die Hände. Dazu presst er einen feinen Strahl «Bunno» durch die Zähne. Die Kaffeezeit ist beendet. Das Gelächter über meine vergeblichen Versuche, es meinem Gastgeber gleichzutun, hält noch lange an.
Vielleicht möchten auch andere einen Blick auf diesen Mann werfen, der sich nicht mal die Hände waschen kann? Jedenfalls bittet man mich bald auch in andere Hütten zum Kaffee – etwa bei Geltiys Schwester Algo und ihrer Familie, auch bei Kaeske, der zweiten Schwester, die mit Dorfvorsteher Shada verheiratet ist. Der waltet jedoch gerade anderweitig seines Amtes. Später sehe ich eine Gruppe älterer Dorfbewohner abseits der Hütten diskutieren. Geltiy klärt mich auf: Der Ältestenrat – der Zarzindalk – berät die Bestrafung eines Dorfbewohners, der sich der Misshandlung seiner Frau schuldig gemacht hat. Das Urteil lautet: ein Rind für die Dorfgemeinschaft. Das kann er sich nicht leisten, weshalb das Strafmass auf zwei Ziegen herabgesetzt wird. Sogleich werden sie geschächtet. Auch ich darf das frische Blut probieren – ein Geschmack wie Zahnfleischbluten. Schnell sind die Ziegen gehäutet und ausgenommen, dann röstet das Fleisch am Feuer. In der Zwischenzeit versammeln sich die Männer des Dorfes, getrennt nach Alt und Jung. Von den Alten werde ich eingeladen, mit ihnen «Farsi», Hirsebier, zu trinken. Wir sitzen im Schatten eines Baumes, die Bier-Kalebasse geht reihum.
Das Ziegenfleisch ist bald fertig. Wir versammeln uns am Boden um eine Tischdecke aus grünem Laub. Jüngere Männer bedienen uns mit Bratenstücken. Vor dem Mahl mahnt der ehrwürdige Arbala, einer der Dorfältesten, die Umsitzenden gestenreich, die Regeln der Gemeinschaft einzuhalten. Nach dem Essen sitzen die jüngeren Männer des Dorfes im Kreis zusammen und beratschlagen, wie sie mit einem Altersgenossen verfahren sollen, der die Früchte eines fremden Mangobaums zerstört hat. Plötzlich springen einige auf und rennen los. Nach einer Weile kehren sie mit einem gefesselten jungen Mann zurück. Der mittlerweile am Boden liegende Gefangene wird mit dünnen Ruten ausgepeitscht. Geltiy erklärt mir, das Gastrecht erlaube es mir, die Tortur zu beenden. Ich renne so schnell ich kann zum Ort des Geschehens. Ein Begleiter übersetzt meine Bitte: «Please, stop it!» Sofort wird das Auspeitschen beendet – der Gast ist König.
Auf leisen Sohlen
Zwei Freunde Geltiys, Kundu und Andulscha, genannt Turmi, nehmen mich unter ihre Fittiche. Sie laden mich zur Jagd ein. Wir machen uns auf den Weg: Turmi mit dem Gewehr, ich mit der Kamera bewaffnet. Im dichten, dornigen Buschwerk kann ich keine Tiere entdecken. Im Gegensatz zu dem geübten Jäger Turmi. Er rennt los, ein Schuss fällt, und kurze Zeit später taucht er mit einem Dikdik, einer Zwergantilope, wieder auf. Der Jäger lässt sich stolz mit der Beute fotografieren. Dann zückt er seinen Dolch und schneidet dem toten Tier ein Ohr ab, teilt es und reicht mir die eine Hälfte, die andere behält er. Wir sind soeben «Musso» geworden – Freunde. Von nun an reden wir uns nicht mehr mit Namen an, sondern nur noch mit Musso.
Am Abend wird das Wild gebraten und gemeinsam mit meiner Gastfamilie vor der Hütte verspeist. Ich liege auf einer Ziegenhaut, lausche den Gesprächen und erfreue mich am klaren Sternenhimmel.
Jeden Morgen treffe ich Musso und Kundu zur gemeinsamen Dusche unter der Wasserpumpe in der Nähe des Dorfes. Einer pumpt, der andere wäscht sich, kniend oder unter dem Wasserstrahl liegend. Früh morgens herrscht an der Pumpe mächtig Betrieb. Ich dachte, ich würde als Weisser unter der Dusche Aufsehen erregen – die Hamer aber empfinden es als ganz normal. Mein fremdes Aussehen spielt für sie keine Rolle. Meine beiden Begleiter zeigen mir, wie man Feuer ohne Streichhölzer entfacht, wie man einen Bienenstock ausräuchert, um an den Honig zu kommen, wie man Pfeil und Bogen herstellt und wie man damit umgeht. Sie stellen mir ihre Freunde in den anderen Dörfern vor und freuen sich, wenn ich sie auf ein Bier in die Stadt einlade.
Festliche Bräuche
Zum Jahresende ist wieder Zeit für den Initiationsritus «Oukuli Bulla», das sogenannte Bullenspringen. Jungen werden zu Männern, wenn sie über die Rücken mehrerer zusammengetriebener Rinder laufen – viermal, ohne abzustürzen. Ein grosser Festtag für die Hamer. Es geht los mit stundenlangem Tanzen, Klatschen und den Klängen der Blechtröten der Frauen. Vor allem junge Frauen fordern Junggesellen, ob sie wollen oder nicht, auf, sie mit elastischen Gerten auszupeitschen. Auf ihren Rücken bleiben blutige Striemen zurück. Die Mädchen – stolz darauf, ihre Leidens- und Widerstandsfähigkeit bewiesen zu haben – reiben die Wunden mit Fett ein. Es sollen möglichst dicke Narben sichtbar bleiben, als Zeichen ihrer Stärke.
Über den Autor
Christoph Keller, Jahrgang 1953, hat Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Fotografie studiert und arbeitet seither als freiberuflicher Fotograf in Hamburg. Berufsbedingt ist er oft auf Reisen, überwiegend in Europa und Asien. Er liebt Orte mit klangvollen Namen wie zum Beispiel Samarkand, Timbuktu und Sansibar.
Wie geht die Geschichte weiter?
Der Autor erlebt das Initiationsfest der jungen Männer, das Bullenspringen, hautnah mit und erhält bei seiner Rückkehr nach Deutschland eine schreckliche Nachricht, die ihn zum erneuten Aufbruch zwingt.