Wo der Frieden eine Mauer braucht

Nordirland. Meine ersten Assoziationen mit dem Land sind Wörter aus meiner Kindheit. Aufgeschnappt aus dem Fernsehen, während ich ungeduldig wartete, dass die 19-Uhr-Nachrichten endeten und Mama wieder mit mir spielen würde. Wörter, die irgendwie mit Krieg zu tun hatten. Schiessereien. Barrikaden. Scharfschützen. Tote. Ich sehe noch Mamas trauriges Gesicht vor mir, jedes Mal, wenn es um Irland ging.

Irland hatte auch schon immer mit mir zu tun. Mit Bernadette. Meine Mutter stellte immer klar, dass ich nicht etwa nach der heiligen Bernadette von Lourdes benannt war. Auf keinen Fall. Nein, ich trage meinen Vornamen dank Bernadette Devlin, einer irischen Rebellin. Besser gesagt einer Rebellin aus Nordirland. Und das bedeutet mir viel. Genau wie mein erster Besuch im Land meiner Namensgeberin. Und mein erster Besuch von Derry, der Stadt, wo ich mich unter der drei Stockwerke hohen Abbildung von Bernadette Devlin – ein Megafon am Mund und im blutroten Pulli – ein bisschen klein aber auch ganz schön gross fühle. Dass Bernadette, die mit Vorliebe Miniröcke trug, sich sogar mal auf einen Politiker gestürzt und ihm das Gesicht zerkratzt hat, lerne ich erst einen Tag später von einem Tourguide, der die politische Aktivistin persönlich kennt und mit breitem Grinsen von der «kleinen Bernadette» erzählt.

Jetzt, wo ich selbst nordirische Luft geschnuppert habe, kommt es mir vor, als hätte der berüchtigte irische Wind meine Kindheitsassoziationen und mein Wissen über den Nordirlandkonflikt ganz schön durchgepustet. Was ich nicht erwartet hätte: Ich schaffe es nicht, die Spannungen vollkommen unter «Damals» abzuheften, sehe zu viel davon auch jetzt noch hier. Blutige Kämpfe. Tote auf der Strasse. Protestierende, schreiende Menschen. Zumindest auf den Fotos und Leinwänden von Museen, vor allem aber auf den Mauer- und Wandmalereien inmitten von Wohngegenden in Belfast und Derry, auch als «Londonderry» bekannt. Mit diesem von Königin Elisabeth verliehenen Namen möchte sich die Stadt aber nicht identifizieren. Stadtführer Garvin Kare – der aussieht, als wäre er um neun Uhr morgens gerade erst aus dem Pub gekrochen – erzählt mir, dass Nordirland vor sieben Jahren einen Antrag an die Königin gestellt hätte, diesen königlich verliehenen Titel zurückzunehmen. Die Antwort der Queen liesse leider bis heute auf sich warten.

Zum ersten Mal stehe ich vor einer «Peace Wall». Die Mauern des Friedens sind ab 1969 entstanden. Wieso aber braucht der Frieden Mauern? Die beiden Begriffe wollen so wenig zusammenpassen wie Mittagessen und Cappuccino für einen Italiener. Doch, erklärt Taxifahrer Billy in Belfast, brauchen Katholiken und Protestanten eine Mauer zwischen sich, um Abstand zu halten. Sozusagen, damit keiner dem anderen in die Tapeten guckt oder sich durch anders-religiöse Festivitäten gestört fühlt. Fakt ist, dass nach der Waffenstillstandserklärung der IRA 1994 und der Friedensregelung von 1998 die Mauern, auch Friedenslinien genannt, weiter zunahmen. Mittlerweile stehen allein in Belfast über 40. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren angekündigt, die Mauern innerhalb eines Jahrzehnts abbauen zu wollen – doch ein Grossteil der Anwohner ist dagegen.

Der Verdacht, dass ein wirkliches Auskommen zwischen Katholiken und Protestanten noch immer kein «Cup of Tea» ist, kommt mir immer wieder. Zwar kann man inzwischen interreligiös heiraten, meint Taxifahrer Billy, aber auf welcher Seite das Paar dann wohnen wird, das sei noch immer ein Problem. «Ein Protestant kann nicht einfach zwischen Katholiken wohnen oder andersrum, da würden die Nachbarn schnell auf der Matte stehen und Protest einlegen. Natürlich gewaltfreien Prostest.», fügt er noch schnell hinzu. Also ziehen viele ökumenische Paare aufs Land – ins «Off», zu den Schafen.

Nirgends anders als in Derry ist der «Bloody Sunday» noch immer präsent, genauer gesagt in der Bogside: in dem Stadtbezirk, in dem am 30. Januar 1972 dreizehn für Bürgerrechte demonstrierende Menschen von britischen Soldaten erschossen wurden. Ich stehe Rossa O’Dochartaigh gegenüber, ein etwa Mittzwanziger mit lodernden Augen. Er ist einer von mehreren Mitarbeitern im New Derry Museum, das den Besuchern die Grausamkeiten jenes Sonntags vor Augen zerrt. Arbeiten darf hier nur, wessen Familie direkt vom «Bloody Sunday» betroffen ist – nur jene, die eine Geschichten erzählen können – Geschichten von Ungerechtigkeit, von Tod und Trauer. «Das hier ist mein Grossvater!», schreit Rossa geradezu und tippt immer wieder auf ein Schwarz-Weiss-Foto, das einen auf dem Rücken liegenden Mann mitten auf der Strasse zeigt. Auch darauf zu sehen ein weiterer Mann, er robbt heran, will seinem Freund helfen. Zu spät. «Mein Grossvater war 31.» Das Feuer in Rossas Augen glüht weiter auf, seine Stimme ist hart. Irgendwie unfriedlich. Sein Zeigefinger fährt zum nächsten Foto an der Wand. «Und das ist der Mörder meines Grossvaters.»

Nach jenem Sonntag habe die IRA auf einmal an die 3000 Mitglieder gezählt – davor waren es nur gut 400. Ein älterer Mann kommt heran, John Kelly. Auch er arbeitet im Museum, auch er hat am «Bloody Sunday» einen geliebten Menschen verloren. Seinen Bruder. Johns Züge wirken so gehärtet, als hätte er seitdem nie wieder gelächelt. Doch, so erzählt er, helfe ihm der Job, sich die Gefühle von der Seele zu reden. Lang aufgestauter Hass verschafft sich mit Worten statt mit Schüssen Freiheit, denke ich.

Garvin, der «Mauer-Guide» wendet sein Gesicht ganz der Zukunft zu. Seine Wangen glühen noch intensiver, als er über «mein Derry» spricht, über «my wee little town», seine kleine Stadt. Auch er hat die «Troubles», wie der Nordirlandkonflikt am Ende des 20. Jahrhunderts genannt wurde, durchlitten, hat «gesehen, was nie ein Mensch sehen sollte». Und doch hat das Leben es bei ihm geschafft, seinen Ärger weichzuzeichnen, ihn mit Lebenslust zu überpinseln, mit Begeisterung für das Derry von heute und vor allem das Derry von morgen. Immer wieder beteuert er, dass er sie zeigen möchte, seine kleine Stadt, die jetzt wieder so friedlich in der Morgensonne schlummert, nur leicht überzogen vom Frühnebel. «Schaut», deutet er auf die Sonne. «Ihr könnt nicht verhindern, dass diese Sonne heute Abend untergeht und morgen früh wieder aufgeht. Also kriegt eure Hintern hoch und geniesst das Leben, so, wie es nun mal ist. Es ist kurz, und wenn ihr ein Guinness zum Frühstück wollt, dann holt euch verdammt nochmal ein Guinness zum Frühstück!»

Dabei möchte auch Garvin die Vergangenheit nicht beschönigen und schon gar nicht vergessen. Die Sonne beleuchtet die kräftigen Farben der Wandmalereien unterhalb der Mauer, in der Bogside. Sie beleuchtet das Bild einer 1971 beim Kugelhagel versehentlich getroffenen Schülerin, das die ganze Hauswand eines zweistöckigen Gebäudes einnimmt. Mahnend blickt das Mädchen zur Stadtmauer hinüber. Jedoch wurde das Bild, so Garvin, kürzlich umgemalt. Ein Gewehr, das zuvor links von dem Mädchen bedrohlich in die Höhe schoss, zeigt nun nach unten – in der Mitte zerbrochen. Alle Farben, einst schwarz-grau, wurden in kräftige Töne verwandelt. Besonders bunt ist der Hintergrund hinter einer Friedenstaube, die auf einer anderen Hauswand gen Himmel strebt. Denn Frieden, denke ich, während ich wenige Tage später über die offene, nicht einmal spürbare Grenze in die Republik Irland fahre, hat das Land verdient.

Um eine normale Gegenwart bemüht sich auch Toursim Northern Ireland und führt verschiedene Kampagnen durch, die das Land in einem touristischen Licht zeigen. Rossa wird seinen Grossvater wohl immer im Kopf behalten – hoffentlich mit dem Gedanken, niemals wie er enden zu wollen. Und ich, ich schiebe meine früheren Nordirland-Assoziationen am Ende der Reise ganz vorsichtig hinter eine Mauer. Eine Mauer, bunt bemalt mit Menschen, die nach vorne, nicht zurück schauen. Und ich hoffe, dass nicht nur meine Fantasie sie malt, sondern die Realität.

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