Sprung ins Ungewisse

Im Osten von Borneo trotzt das Meeresvolk der Bajau der fortschreitenden Globalisierung mit Tradition und Bescheidenheit. Wie lange es sich der modernen Welt allerdings noch entziehen kann, ist ungewiss.

Ausgabe: 149  Text und Bilder: Claudio Sieber 

Am Hafen von Semporna geht es chaotisch zu und her. Ich frage mich, ob hier die Zukunft der jungen Generation der staatenlosen Bajau ist, sehe die Jugendlichen herumstreichen. Semporna im Osten von Sabah im malaiischen Teil der Insel Borneo ist für den Tauchtourismus weltbekannt. Es gibt hier so viele Tauchzentren, dass alle Taucherinnen und Taucher der Welt mit einem Unterwassertrip in die Sulusee versorgt werden könnten. Die Vertreter der älteren Bajau-Generation warten hier auf einen Gelegenheitsjob. Die Männer kauern neben ihren Schubkarren, um mit einem Transport ein paar Ringgit zu verdienen. Der Kontrast könnte grösser nicht sein: Hier trifft die bescheidene Lebensweise der Bajau auf die Unterhaltungsindustrie der Gutbetuchten.

Spurensuche

Grenzenlose Freiheit in paradiesischer Umgebung, gratis Nahrung aus dem Meer nur wenige Ruderzüge von der Behausung auf dem Wasser entfernt – so hatte ich mir das bescheidene Dasein der Bajau romantisch vorgestellt. Bis 2017, als ich zum ersten Mal hier war. Zwischen Tauchsafaris und Dolce Vita an perfekten Sandstränden begriff ich die komplexen Migrationshintergründe und die kulturelle Identität des Meeresvolks nicht. Verwirrt beobachtete ich, wie sich die Bajau zähneknirschend mit dem Massentourismus verflechten.

Bei Pulau Mabul (Pulau heisst Insel) verwittern die schlichten Behausungen einiger Bajau-Siedler genau gegenüber einem chinesischen Luxusferienresort. Beide Parteien haben Aussicht auf den gegensätzlichen Lebensstil. Nur müssen die chinesischen Gäste Ferientage opfern und sich stundenlang in einen Flugzeugsitz quetschen, um im Infinitypool der Bajau baden zu dürfen. Deren Himmel ist immer blau, die Luft gut. Sie haben nicht den Stress, sich gegen 1,4 Milliarden andere Menschen behaupten zu müssen.

Ich kehre hierhin zurück, um mehr über die Bajau zu erfahren. Über Jahrtausende hinweg war das Meer ihr Imperium, ein Niemandsland ohne Ämter und politische Strukturen. Bis sich Malaysia, die Philippinen und Indonesien die Sulusee im Jahr 1885 aufteilten. Wer Glück hatte, befand sich im friedvollen Herrschaftsgebiet der Malaien in Ost-Borneo oder der Indonesier nahe Sulawesi.

Beide Länder akzeptieren die Seenomaden als Teil ihrer Gesellschaft. Knifflig wurde es für diejenigen, die an der Westküste der philippinischen Inselgruppe von Mindanao lebten. Die Region ist seit mehreren Dekaden Brennpunkt blutiger Fehden zwischen der Moro Islamic Liberation Front (MILF) sowie später der militanten dschihadistischen Gruppe von Abu Sayyaf und dem philippinischen Militär. Zwar gewährte das philippinische Bildungsministerium den Bajau Hilfeleistungen wie kostenlose Bildung, monatlich 1500 philippinische Pesos (umgerechnet etwa 30 Franken) Zuschuss oder gar ein motorisiertes Fiberglasboot plus Fischernetz. So sollte das Volk langfristig in die philippinische Gesellschaft integriert werden.

Die angepriesenen Spenden waren jedoch versteckt unter einem Fluch aus kompliziertem Papierkram. So zogen es viele Bajau vor, ihre Segel zu setzen, um sich rund 500 Meereskilometer südwestlich im maritimen Garten Eden in Malaysia niederzulassen, einer Region, die sie nur aus Erzählungen ihrer Ahnen kannten. Malaysia schiebt diese Menschen weder ab noch werden sie offiziell immigriert. Sie sind Sans-
Papiers.

Bohey Bual

Der Tagesanbruch riecht nach Benzin und verschmutztem Meerwasser. Mit Fotoausrüstung, Essen, einer aufblasbaren Matratze und Malutensilien halte ich Ausschau nach meinem Guide. Rielz Datu bewies sich im Vorfeld als fachkundig und motiviert. Er beherrscht neben Englisch auch die Sprache der Bajau und kennt dazu alle Schlupflöcher, um die nächsten Tage komplikationslos im streng regulierten Tun Sakaran Marine Park vor Sabah zu verbringen.

Da kommt er schon, das Haar lang à la Jason Momoa aus «Aquaman», auch die Gesichtszüge ähneln dem Schauspieler. Nur etwas fülliger gebaut als Momoa ist der gute Mann. Mit einem Boot geht es zu Rielz’ Algenplantage, wo wir unser Lager für die nächsten Tage aufschlagen.

Das türkisfarbene Meer um die Insel Bodgaya hat einen geringen Salzgehalt, weil es sich mit dem Sickerwasser der Hügelkette auf der Insel vermischt. Hier leben um die 300 Bajau in der Gemeinschaft Bohey Bual. Es sind jene Bajau, die einst aus Mindanao flohen, um sich hier eine neue Lebensgrundlage aufzubauen. Eine Staatsbürgerschaft haben sie nicht, sie gehören weder zu den Philippinen noch zu Malaysia. Ihre Stelzenhäuser, gezimmert aus Holz und Palmblättern von der Insel, sprenkeln das Wasser vor Bodgaya.

Nur noch sehr wenige Familien besitzen ein Lansa, ein Hausboot, das einstige Markenzeichen der Seenomaden. Vater Asli und seine Familie gehören zu den Letzten dieser Gilde. Als wir im Wasserdorf auftauchen, gleitet ihr Lansa gerade durch das morgendliche Dorftreiben von Bohey Bual. Ein idyllisches Bild. Wir dürfen das Hausboot in Augenschein nehmen. Erstaunlich, wie sich die neunköpfige Grossfamilie auf den knapp zehn Quadratmetern Wohnfläche organisiert. Nur das Allernotwendigste findet Platz. Auf dem Deck köcheln Sardinen unter der strengen Obhut von Aslis Schwager Silaji. Im überdeckten Schiffsrumpf mischt Mutter Saliha ihr Borak Buas an, eine Paste aus Kurkuma, Reispulver und Wasser, die als Gesichtscreme dem UV-Schutz dient.

Grossmutter Jamariah trällert ein frei erfundenes Wiegenlied für die erst wenige Wochen alte Enkelin Luna. Improvisierte Lieder sind ein Kulturgut der schriftlosen Bajau, die ihre Geschichten über Generationen hinweg durch Musik bewahren. Die Jungs, Johan und Hannibal, spielen mit einem Bötchen, das sie aus Gummilatschen gebastelt haben. Die Frage nach dem Alter der Familienmitglieder bleibt unbeantwortet. Irgendwie logisch, denn die Bajau leben nicht nach unserer Zeiteinteilung. Sie orientieren sich am Tag-und-Nacht-Rhythmus, an Ereignissen wie dem Hari Raya, dem Fastenbrechen bei Ramadan, oder der Migrationszeit der Barsche.

Im Lansa quietscht und wackelt alles. Sie sei aber nicht etwa seekrank, sondern regelmäs­sig landkrank, sagt Oma Jamariah. Jedes Mal, wenn sie Verwandte besuche, die auf den Inseln leben oder wenn sie nach Semporna gehe, um Fisch gegen Zigaretten, Gas, Benzin und Tapioka einzutauschen, fühle es sich so an, als lebe der Boden unter ihren Füssen. Jamariah sieht sonst wenig Grund, ans Festland zu gehen. Das Meer sei ihr Supermarkt, sagt sie. Und der Regen sichere den Trinkwasservorrat.

Wie es denn mit allfällig nötigen Krankenhausbesuchen aussehe, frage ich. Medikamente, erklärt Jamariah, bräuchten ihre Leute selten, die wenigsten von ihnen trauten modernen Ärztinnen und Ärzten. Und einige Arzneien könnten sie selbst herstellen, beispielsweise aus Seegurken. Diese sollen die Potenz steigern, Demenz heilen und das Krebsrisiko verringern. Hier draussen sei selbst die Coronapandemie spurlos an den Menschen vorbeigegangen, sagt Jamariah.

Traditionen

Heiratet der erste Sohn einer Bajau-Familie, bekommt er traditionell das Lansa der Eltern geschenkt, zum Aufbau seiner neuen Familie. Die Eltern zimmern dann entweder ein Stelzenhaus oder lassen sich ein neues Boot bauen – je nach Budget oder Umfeld. Soweit ich das verstanden habe, gibt es keine eindeutige Regel. Asli hatte Pech, sein Elternboot war bereits nahe am Zerfall. Er lieh sich umgerechnet rund 2800 Franken und liess sich ein neues Boot anfertigen. Bei den gängigen Handelspreisen in Semporna muss er rund 1500 Kilogramm Fisch verkaufen, um die Hypothek abzuzahlen. Trotzdem ist ihm das lieber, als in eine befestigte Bleibe zu investieren. Ein Hausboot sei Sinnbild für Flexibilität und ein grosser Teil der kulturellen Identität seines Volkes, erklärt Asil.

Wir verabreden uns für den Folgemorgen, bei den Bajau bedeutet das kurz nach Sonnenaufgang. Ob sie dann wirklich am selben Standort sein werden, steht wortwörtlich in den Sternen. Das hat ein Treffen mit Nomaden so an sich. Niemand besitzt hier ein Mobiltelefon, um allfällige Planänderungen durchzugeben.

Wie geht die Geschichte weiter?

Die Seenomaden nehmen den Autor mit auf die Jagd, bewaffnen sich mit Harpune und Tauchermaske und führen ihm ihre verschiedenen Jagdtechniken vor. Ausserdem verbringt der Autor noch ein paar Tage allein in Semporna und erkundet das Stelzendorf Bangau Bangau. Hier macht er sich Gedanken über die Zukunft des Meeresvolkes.

Über den Autor

Claudio Sieber (42)  ist freier Multimediajournalist mit Schwerpunkt auf Kultur- und Gesellschaftsthemen in Asien. Wenn er nicht auf Entdeckungstour ist, lebt der Ostschweizer auf dem Eiland Siargao auf den Philippinen. Er hat die Bajau erstmals Mitte 2018 besucht, und seitdem ist seine Faszination für das Meeresvolk ungebrochen. Die Geschichte basiert auf seinem jüngsten Besuch in der Region im Mai 2023. Seine Bilder und Geschichten erscheinen in verschiedenen internationalen Medien.

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