Eseltrekking in den Abruzzen

 

«Andiamo, Rosina!» Die Eselin mit dem weissen Gesicht, die mein Gepäck trägt, knabbert an einem Grasbüschel. Ich ziehe am Führungsstrick. «Nicht viele verschiedene Dinge versuchen. Lieber nur eines und das konsequent»: Saskias Stimme klingt mir noch im Ohr. Sie ist die Besitzerin der beiden Esel, mit denen mein 16-jähriger Sohn und ich unterwegs sind. Leicht verzweifelt blicke ich nach vorne, wo Ryan mit seinem Esel Valerio in bester Einigkeit davontrottet. Wie Lucky Luke – hinein in die Wildnis der Abruzzen.

Die beiden Gestalten werden kleiner und kleiner. Es sieht so einfach aus. Ich hole tief Luft und verstärke den Zug am Führungsstrick. «Das tut ihr nicht weh», höre ich Saskia wieder in meinem Kopf, «Esel untereinander sind viel ruppiger». Saskia hat auch erklärt, dass wir die Tiere nur in den Pausen fressen lassen sollen, sonst kämen wir nie voran.

Ich ziehe weiter, und plötzlich gibt Rosina nach. Sie trottet neben mir her, als hätte es nie einen Machtkampf gegeben. Gerade will ich triumphieren, da wirft Rosina erneut den Kopf zur Seite. Auch ich sehe jetzt den saftigen Löwenzahn und ziehe blitzschnell in die andere Richtung. «No, no, Rosina!» Sie lässt sich wegziehen. 1:0 für mich. Puh!

Die erste Etappe von Goriano Valli nach Fontecchio ist rund 14 Kilometer lang. In unserer Wegbeschreibung stehen geheimnisvolle Angaben. «Gehzeit ohne Esel 3 Stunden, mit Esel 5 bis 6 Stunden», zum Beispiel. Das bezieht sich doch hoffentlich auf das gemütliche Eseltempo und nicht auf das andauernde Grasnaschen der Tiere?

Wir sind vier Tage mit den Langohren in den Abruzzen unterwegs, im einsamen Regionalpark Sirente-Velino. Die Idee gefiel uns, weil wir Tiere, Wandern in wenig bekannten Regionen und nachhaltiges Reisen mögen. Mit Eseln haben wir jedoch keine Erfahrung. Wir besassen Meerschweinchen. Natürlich hatten wir von der sprichwörtlichen Sturheit der Esel gehört. Rosina zieht mal zu einem Blumentopf links, der sicher nicht für sie bepflanzt wurde, mal zu einigen Kräutern rechts. Ich begreife: Wir wandern permanent an Bonbonladen vorbei. Na, prima. Ich denke daran, dass ich jahrelang menschliche Teams geführt habe. Nun sind auch Führungsqualitäten gefragt. Andere.

Als ich im Gehen einen Blick auf die GPS-Daten werfen will, nutzt Rosina das aus, um pfeilschnell an mir vorbeizutraben – auf einmal kann sie so flink sein – und einige Gräser anzusteuern. Ich laufe hinterher, stehe zwischen ihr und dem Grünzeug und schiebe sie mit beiden Händen und meinem Körpergewicht weg. 2:0! Der Schweiss läuft mir herunter, ich keuche. Es ist bestes Wetter, wolkenloser Himmel, 24 Grad.

Nach mehreren gewonnenen Machtkämpfen läuft Rosina brav hinter mir her, als wäre nie etwas gewesen. Doch Saskias Warnung, dass die Rangfolge nach jeder Pause und an jedem Tag neu ausgefochten werden kann, ist mir im Ohr. Für den Moment seufze ich auf und geniesse den grandiosen Ausblick, der sich uns bietet: waldbedeckte Berge und graue Felsen vor blauem Himmel. Ab und zu hören wir einen Hirsch röhren.

Plötzlich bleiben die Esel stehen. Saskia hat uns eingeschärft, in einem solchen Fall zu warten, da die Langohren mit ihrem empfindlichen Gehör lange vor uns andere Tiere wahrnehmen. Anders als Pferde fliehen sie nicht, sondern bleiben stehen und schätzen die Situation ein. Die Wildnis, die uns hier umgibt, birgt Schlangen, Marder, Füchse, Wölfe und Wildschweine. Nach einem Moment gehen beide Esel wie auf ein geheimes Kommando weiter – keine Ahnung, was sie gehört haben.

Der schmale Pfad durch den Wald führt über Geröll den Berg herab. Plötzlich rumpelt es hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Rosina mit der Unaufhaltsamkeit einer Lokomotive auf mich zudonnern. Bergab rennen die Esel gern. Ah ja, auch das hatte Saskia erwähnt. Ehe wir uns verletzen, sollen wir sie besser laufen lassen. Sie würden unten schon auf uns warten. Kurz versuche ich, Rosina aufzuhalten. Dann, vor ihr herzurennen. Keine Chance, ich verstauche mir höchstens auf dem losen Gestein einen Knöchel. Gerade noch kann ich den Strick loslassen und beiseite springen. Ryan joggt vor Valerio her, entschlossen, dem Esel nicht die Führung zu überlassen und hat sichtlich Spass. Er ist ja auch 16 Jahre alt und nicht 56.

Keuchend erreiche ich den Talboden. Drei Gesichter, zwei davon flauschig-behaart, sehen mich unschuldig fragend an, während ich nach Luft schnappe und Rosinas Führungsstrick ergreife. Ich wusste, dass eine Wanderung in den Abruzzen anstrengend sein würde – allerdings hatte ich mir das aus anderen Gründen vorgestellt.

Der sonnenbeschienene Weg führt am Fluss Aterno einem Feldweg entlang. Wir machen Rast, tränken die Esel und lassen sie am langen Strick grasen. Den schlanken Tieren mit den eleganten Fesseln und runden Bäuchen beim Fressen zuzusehen, ist herrlich. Sie strahlen eine ungeheure Ruhe aus, die sich auf uns überträgt. Ich habe Rosina schon verziehen.

Nach der Pause schlängelt sich der Pfad einen Berg hinauf. Über uns sehen wir bereits die ineinander verschachtelten Häuser des mittelalterlichen Dorfes Fontecchio, das einer Festung gleicht. Begeistert von diesem Anblick verpassen wir die Abzweigung zur heutigen Eselunterbringung und stehen nach etlichen Haarnadelkurven auf der glücklicherweise kaum befahrenen Hauptstrasse am Ortseingang.

Ryan muss beide Esel halten, die natürlich in verschiedene Richtungen laufen wollen, während ich Alessio anrufe, unseren Gastgeber für die Nacht. Netterweise kommt er uns entgegen und zeigt uns den Weg. Wir satteln die Esel ab und versorgen sie. Anschliessend schleppen wir uns keuchend den gewundenen Pfad ins Dorf hinauf. Unsere Unterkunft, ein dickwandiges Zimmer mit einer grossen, schweren Holztüre gibt uns das Gefühl, in einer Burg zu sein. Öffnen wir das bodentiefe Fenster, blicken wir hinab in das weite Tal, aus dem wir kamen. In der Ferne färben sich Anhöhen im Sonnenuntergang blau.

Unsere Gastgeber Louisa und Alessio servieren uns ein hervorragendes Mahl aus Linsen, einheimischen gegrillten Zucchini, saftigen Tomaten, Mozzarella und einer Art Risotto. Als ich im Bett liege, tanzen die Gedanken in meinem Kopf: Geht es den Eseln gut? Haben sie genug Heu? In der Beschreibung für den kommenden Tag steht ein seltsamer Satz: «Wenn es an Baustellen eng wird, eventuell absatteln.» In Fontecchio sind nach einem Erdbeben im 2009 noch immer viele Gebäude im Wiederaufbau, und die schmalen Gassen durch Gerüste noch enger.

Am Morgen laufen wir Richtung Piazza. Ryan kann Valerio dazu bringen, unter einem Baugerüst an einer schmalen Stelle durchzugehen. Rosina gefällt das Gerüst nicht. Sie wählt einen noch engeren Weg, und bleibt prompt mit den Packsäcken stecken. Sie gerät in Panik. Mir bricht der Schweiss aus. Ich schaffe es, ihr die Packsäcke abzunehmen, und schon donnert sie davon. Nach Luft schnappend, klatschnass, meinen Rucksack und zwei Packtaschen schleppend, hole ich Ryan ein, der mich verwundert ansieht. Neben ihm stehen zwei Esel, die unbekümmert schon wieder Gräser futtern.

Am Ortsausgang lassen wir die Esel grasen. Wir haben gelernt: Ein satter Esel läuft auch gern. Dann heisst es wieder: «Andiamo, Valerio. Andiamo, Rosina!» Zuerst zögern die Esel, als wollten sie sagen: «Echt jetzt? Ich war so schön am Fressen! Nur diesen süss riechenden Salbei dort noch!» Doch dann einigen wir uns darauf, dass es nun vorangehen soll. Wir folgen einer alten Mulattiera, einem Saumpfad zwischen Kletten, Dornen und Gestrüpp, bergauf. Wieder leuchtet der Himmel blau über uns. Valerio läuft problemlos. Ryan hat sich endgültig in einen Eselflüsterer verwandelt. Die beiden sehen aus, als ob sie stumm Zwiesprache halten. Ab und zu streichelt Ryan Valerios weichen Hals. Ich muss immer mal wieder kämpfen, aber auch Rosina und ich haben uns aneinander gewöhnt. Und die grandiose Wildnis überwältigt unsere Sinne.

Nach vier Tagen stellen wir fest: Die Abruzzen haben unsere Herzen erobert. Zum Abschied streicheln wir die Tiere. Das wahre Highlight war ein Vierbeiniges. Auf dieser Tour haben wir viel über Esel gelernt. Und über uns.

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