Geschäftsreise auf Chinesisch

 

Alle 20 Sekunden hallt eine Durchsage durch die Bahnhofshalle. Natürlich verstehe ich nichts. Ich kann kein Chinesisch. Der Bahnhof gleicht mit seinem gewölbten Designer-Glasdach eher einem Flughafenterminal. Es ist Montagmorgen, 10 Uhr in der Beijing South Railway Station. Es geht hektisch zu und her, überall sind Menschen und dennoch wirkt alles irgendwie organisiert. Es ist anscheinend der ganz normale Wahnsinn in Peking.

Wir warten auf einen sogenannten Bullet-Train, der uns mit über 300 Kilometern pro Stunde in rund viereinhalb Stunden nach Nanjing bringen wird. Gut 1000 Kilometer Richtung Süden. Dort steht der grösste asiatische Bahnhof mit einer imposanten Gebäudefläche von einem Quadratkilometer. Mit meinem Arbeitskollegen Reto bin ich in China auf Geschäftsreise. Es ist nicht das erste Mal, dass ich für unseren Arbeitgeber, ein Schweizer Werkzeugmaschinenhersteller, hier auf Kundentour gehe. Wir besuchen bestehende Kunden, dürfen die Maschinen aber auch bei potenziellen Neukunden vorstellen. Und zum Schluss steht noch unser Engagement an der «China International Machine Tool Show» in Peking an.

In Nanjing treffen wir Herrn Pan Ming. Pan ist unser Agent und Servicetechniker in China und Taiwan, seit 16 Jahren. Pan ist auch unser Guide für diese Reise. Alle nennen Pan Ming nur Pan, obwohl das sein Nachname ist. Dies ist hier so üblich. Pan erzählt, dass nur seine Frau und seine Mutter ab und zu Ming zu ihm sagen würden. Würde ihn jemand anderes so nennen, wäre es ihm unangenehm. Der 47-Jährige ist stets auf Zack. Und der schlechteste Autofahrer, den ich kenne.

Die kommenden Tage sind gefüllt mit zwölf Kundenbesuchen. Diese führen uns von Nanjing über die Städte Wuxi, Suzhou und Kunshan in Richtung Shanghai – alles Städte mit mehreren Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern und einer gigantischen Industrie. Die Fahrten von Kunde zu Kunde sind meist zwischen einer bis drei Stunden lang. Es sind unterhaltsame Stunden, gespickt mit Geschichten zu Tradition und Kultur, die Pan zum Besten gibt. Und wir kommen ausreichend in den Genuss von Pans gewagten Fahrmanövern. Bei rund 2000 Kilometern, die Pan jährlich ungefähr fährt – wie er uns mitteilt und dabei selbst lachen muss – sind seine Fahrkünste eher mässig und stark gefordert im Grossstadtverkehr. Manchmal sehen wir an Ampeln buchstäblich Rot, Pan fährt trotzdem. Klar beachte er diese, meint er, aber es sei manchmal ohne weiteres möglich, bei Rot zu fahren. Wichtig sei es, aufzupassen, dass keine Kamera vorhanden sei, sagt er.

Pan vertraut einzig dem Navigationssystem seines VW Magotan. Als wir einmal eine Tankstelle anfahren wollen, die im Navi angezeigt wird, ist mir klar, dass das nicht sein kann. Während Reto und ich weit und breit nur Baustellen sehen, besteht Pan darauf, dem Navi zu folgen. «Pan, das ist eine Sackgasse», versuchen wir ihm zuzureden. «No, no, Sirs!», ist seine Antwort. Als die Strasse durch eine Abschrankung versperrt ist, statt in eine Kurve zu münden, ist er etwas beschämt.

Wir fahren noch eine halbe Stunde, bevor wir mit den letzten Tropfen Benzin schliesslich eine Tankstelle finden. Obwohl das Verkehrsaufkommen gigantisch ist, scheinen diese rar zu sein. Die freundlichen Frauen an den Tanksäulen kümmern sich um das Befüllen des Tankes und amüsieren sich ab den zwei grossen Europäern. Sie haben keine Hemmungen, Reto und mich zu bestaunen und zu fotografieren. Das passiert uns immer wieder, manchmal werden wir nett gefragt, aber manchmal wird einfach losgeknipst. Aber das macht ja nichts, auch ich habe meinen Spass dabei.

Unterwegs zum nächsten Kunden bereite ich mich am Notebook auf das nächste Meeting vor. Nebenbei zähle ich die «Grabsteine», die am Autofenster vorbeiziehen. So nennen wir unter uns die riesigen und alle gleich aussehenden Hochhäuser. In Reih und Glied stehen sie da, meistens sind es mehrere Dutzend, jedes über 30 Stockwerke hoch. In jeder der Überbauungen leben rund 15 000 Menschen.

Während Pan um Einlass auf das Firmengelände bittet, besprechen Reto und ich noch ein letztes Mal die Taktik für die anstehenden Gespräche. Jede Firma ist mit einer Barriere gesichert und wird von Wachmännern bewacht. Nachdem wir einen Parkschein und Besucherausweise erhalten haben, werden wir von einem Kontaktmann empfangen. Kühles Händeschütteln, man schaut einander selten in die Augen. Wir werden durch eine pompös eingerichtete Eingangshalle geführt. Drei Figuren aus Jade stehen in der Mitte der Halle, jede mindestens drei Meter hoch. Über dunklen Marmorboden geht’s an einem grossen Empfangspult vorbei. Wir haben viele solcher Hallen und Empfangspulte gesehen – nie sind sie besetzt. Der pompöse Eingangsbereich soll einfach zeigen, wie wichtig eine Firma ist.

Beim Konferenzraum wird uns Tee eingeschenkt und ein Sitzplatz angeboten. Die Sitzordnung der Kunden und der Verkäufer ist bei manchen Firmen klar geregelt. Nach einigen Minuten kommt der leitende Angestellte, begleitet von drei weiteren Personen. Es werden Visitenkarten ausgetauscht. Die Etikette will es, dass man diese mit beiden Händen überreicht und annimmt und dann erst einmal eine Zeitlang studiert. Auch ich mache das, obwohl ich die chinesischen Schriftzeichen nicht entziffern kann. Nur ab und zu ist eine Übersetzung auf der Rückseite zu finden, aber für westliche Geschäftspartner geben sich die Chinesen oftmals einen westlichen Übernamen, der für uns einfachen zu merken ist. Dann lege ich die Visitenkarte gut sichtbar neben meine Mappe. Die Abläufe sind bei jedem Kunden ähnlich. Erst nach diesem Startritual können die Gespräche beginnen.

Bei den Besuchen hier ist Vorbereitung enorm wichtig, nicht immer ist es möglich, spontan eine Website oder Youtube aufzurufen, um die neusten Entwicklungen zu präsentieren. Das Internet in China unterliegt Restriktionen, speziell gegenüber westlichen Inhalten. Nach den Gesprächen werden wir durch die Produktion geführt. «Unsere» Maschinen werden bei den Automotive- und Powertoolproduzenten zur Herstellung von Getriebebauteilen verwendet. Bei der Medizinalkundschaft werden damit Hüftgelenke geschliffen und poliert oder Knochenschrauben hergestellt.

Für einen Businesslunch treffen wir einen Kontaktmann in Jiangning, einem Stadtbezirk von Nanjing. Der Mann vertritt einen chinesischen Werkzeughersteller und wir möchten ihm unsere Maschinen vorstellen. Durch eine dunkle Seitenstrasse fahren wir in eine verwinkelte Einstellhalle. Pan will aus Sicherheitsgründen ganz hinten parkieren. Ich verstehe nicht wieso, da ohnehin alles mit Kameras überwacht ist. Mit dem Aufzug geht es in ein westlich eingerichtetes Steakhaus, wo wir in ein dunkles Séparée geführt werden. Geschäftsessen finden meist in abgegrenzten Essbereichen statt. Zu meinem Erstaunen sitzt nicht nur Nick Zhu, der Firmenkontakt, am Tisch. Auch zwei chinesische Maschinenlieferanten von einem anderen Hersteller – Konkurrenten von uns – sind offensichtlich eingeladen.

Als ich eine Cola bestelle, fragt der Kellner, ob die Cola warm oder kalt sein soll. Ich verstehe die Frage nicht. Wieso denn warm? Pan erklärt, dass kalte Getränke die innere Flamme löschen würden, und daher für den Körper nicht gut seien. Dank Pans Übersetzungskünsten entsteht ein reges Gespräch, wird jedoch ständig unterbrochen. Die chinesischen Geschäftspartner widmen sich zwischendurch gerne auch dem Smartphone. Daran bin ich schon gewohnt. Multitasking ist gefragt. Erst jetzt fällt mir die Musik auf, die im Hintergrund läuft. Man wollte wohl etwas Steakhouse-Ambiente schaffen, es läuft Countrymusik. Ich muss das Lachen unterdrücken, denn es läuft eine Country-Version des Weihnachtsklassikers «Stille Nacht, heilige Nacht». Dabei ist Frühling.

Das Essen ist sehr gut. Es gibt viel Gemüse, Nudeln, Saucen und schmackhaftes Fleisch. Ausnahmsweise wird hier mit Besteck gegessen, es soll westlich wirken. Nicht essbare Teile der Fleischstücke werden gekonnt neben den Teller auf den Tisch gespuckt. Für mich zwar ungewöhnlich, aber es scheinen sich alle wohlzufühlen. Mir fällt auf, dass die Diskussionen in dieser Landesregion immer sehr laut sind und die Beteiligten meistens angeheitert. Das sei «Wuxi-Style», sagt Pan. Es wird geraucht, gegessen, man schliesst Freundschaften und bespricht das weitere Vorgehen.

Zurück in Peking muss ich zum Bahnhof, ohne Reto. Meistens sind wir zwar zusammen unterwegs, aber ab und zu teilen wir uns auch auf, um mehr Kunden zu betreuen. Ich frage den Concierge im Hotel auf Englisch, wie ich am besten zum Bahnhof gelange. Der Concierge lächelt mich an. Ich begreife, dass er kein Wort verstanden hat. Schliesslich ist China das Reich der Mitte, oder auch «das zentrale Land». Es ist nur logisch, dass sich Aussenstehende den 1,4 Milliarden Einwohnern anpassen müssen. Ich versuche es nochmals mit Händen und Füssen und den paar wenigen Brocken Chinesisch, denen ich mächtig bin. Der Concierge nimmt sein Smartphone hervor und spricht lauthals hinein. Dann hält er mir das Display vors Gesicht. Ich bin etwas verdutzt, sehe dann aber, dass dort in Englisch steht, dass ich jetzt sprechen soll. Also stelle ich meine Frage nochmals, und das Telefon übersetzt fast live ins Chinesische. Schliesslich kann mir das Hotel einen Fahrer organisieren, und so komme ich ohne Zwischenfälle zum Bahnhof.

Den zweiten Teil unseres Aufenthalts sind wir als Aussteller für unseren Arbeitgeber an der «China International Machine Tool Show» in Peking präsent. Sie ist eine der wichtigsten Messen der Maschinenbaubranche, rund 130 000 Messebesucher aus 90 Ländern werden erwartet. Nach anfänglichen Aufbauschwierigkeiten geht die Messe erfolgreich über die Bühne.

Dort, wo ich mich in China bewege, ist die Luft schmutzig, oft liegen die Tage in einem Dämmerlicht, der Feinstaub hängt als Smogglocke über den Städten. Die Essmanieren sind ungewohnt und das Leben ist hektisch. Oft ist Improvisation gefragt. Aber genau da fühle ich mich wohl. Die Komfortzone zu verlassen, sich in einem fremden Land zu bewegen und zugleich geschäftlichen Erfolg zu generieren, ist meine Welt.

China ist auch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, mit einer Schönheit, die ihresgleichen sucht. So versuche ich auf jeder Geschäftsreise auch einige Tage frei zu haben, um mehr von dem riesigen Land zu sehen. Wer hier viel arbeitet, kann viel erreichen. Ich bin dankbar, China als Halbtourist bereisen zu dürfen. Durch meine Arbeit sehe ich Seiten der Kultur und der Menschen, die Touristen oft verborgen bleiben.

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