Von Nofretete bis Nirwana

Wenn Hightechkapitalismus auf traditionelle chinesische Kultur trifft, kommt dabei eines der faszinierendsten Reiseziele in Fernost heraus: Taiwan. Die Autorin besuchte die Insel und staunte über Erotik, Exotik und Esskultur.

Ausgabe: Onlinereportage     Text: Nicole Quint      Fotos:  Thomas Schneider

 

Das Erste, was mich in Taipeh wirklich verblüfft, sind die halbnackten Go-go-Girls inmitten einer Prozession von Gläubigen. Frittierte Fledermäuse am Spiess, Masseure, die mit Metzgermessern rhythmisch auf die Rücken ihrer Kunden schlagen, oder die porentief reine Metro der Millionenmetropole Taipeh, in der es selbst im Feierabendverkehr stiller ist als in unseren Bibliotheken – all das bestätigt doch nur die erwartete Andersartigkeit Asiens. Andere Bäume, anderes Wetter, andere Sitten – na klar, aber wie anders ist Taiwan wirklich?

In meiner Vorstellung von Taiwans Exotik kam Erotik jedenfalls nicht vor, erst recht nicht in Kombination mit Religion. In das Fest zu Ehren der Meeresgöttin Matsu bin ich zufällig geraten, angelockt von Trommeln, Hörnern und Trompeten, die schon von Weitem zu hören waren. Beim Näherkommen sehe ich dann eine Kolonne von Lastwagen, auf deren Ladeflächen Poledance-Stangen montiert wurden, damit Tänzerinnen in Glitzerunterwäsche daran cellulitefreie Gottgefälligkeit demonstrieren können.

Statt Prüderie hält die Wundertüte des Fernen Ostens also religiöse Animationsshows bereit. Das kann doch kein spirituelles Konzept sein. Kommen Buddhisten etwa schneller ins Nirwana, oder gelingt es Taoisten besser, die polaren Kräfte von Yin und Yang auszubalancieren, wenn nackte Haut im Spiel ist?

Kein Taiwaner, den ich frage, erinnert sich, wann und warum Go-go-Girls erstmals in Tempelumzügen auftauchten. Sicher ist nur, dass die aufreizenden Tanzeinlagen nicht auf eine uralte taiwanische Tradition zurückgehen, aber seit vielen Jahren so selbstverständlich zu religiösen Paraden gehören wie tanzende Drachen, gigantische Gongs auf Rädern, Militärkapellen, Karaoke-Trucks und Tonnen von Böllern.

Alles unter dem Motto: Macht so viel Krach, wie ihr nur könnt. Deshalb sind auch alle Wagen eines solchen Konvois mit monströsen Stereoanlagen ausgerüstet. Was da hinausdröhnt, ist nicht ohrenbetäubend, sondern legt das Gehör für mehrere Stunden ins Koma.

Taiwaner lieben Lärm und Karnevalsatmosphäre. Das Wort dafür lautet «renao», was mit lebhaft und aufgeregt viel harmloser übersetzt wird, als es für unsere europäischen Ohren tatsächlich klingt. Wenn etwas «renao» ist, ist es für Taiwaner gut und bringt Spass. Hochzeitsfeiern zum Beispiel, Tempelfeste und nicht selten sogar Beerdigungen, und wenn Restaurantbesuche nicht in geräuschvollen Grossgruppengelagen enden, sollte der Wirt sich wohl ernsthaft Sorgen um den Ruf seines Lokals machen.

Taiwans Tierwelt im Kochtopf

Die Art, wie Menschen essen, verrät viel über ihre Kultur, und die übliche Begrüssung in Taiwan «Hast du schon gegessen?» zeigt auf, wo hier die Prioritäten liegen. Dabei hat der Hunger eigentlich gar keine Zeit, sich einzustellen. Nahrung ist überall und zu jeder Zeit verfügbar. Der Magen jeder taiwanischen Stadt ist jedoch ihr Nachtmarkt. Tagsüber unspektakuläre Gassen verwandeln sich bei Einbruch der Dunkelheit in grell erleuchtete Open-Air-Küchen. In jedem Winkel wird gebraten, gebacken und geröstet. Muscheln in Chilisauce, Süsskartoffelpüree oder sautierte Blätter des Vogelnestfarns.

Die Angewohnheit, alles zu vertilgen, was sich bewegt, hat dazu geführt, dass Taiwans Tierwelt in hübsch handliche Portionen zerlegt wird – frittierte Tintenfische am Spiess, Quallensalat im Schälchen oder in Blätter gewickelte Fleischklopse. Ich bewege mich wie in einem Museum den Ständen entlang und bin sicher, dass sich an manchen Waren nur Medizinstudenten erfreuen können, wenn sie mit dem Blick des Sezierfachmanns in den braunroten Fleischbergen Pansen, Herz und Entenzungen identifizieren.

Gourmets dürften sich in Taiwans höchstgelegenem Restaurant besser aufgehoben fühlen, um dort mit den Kellnern die Überlebensrate von Hummern zu diskutieren. Mit heiler Kruste kommt keines der Tiere im Gourmettempel «DingXian» davon, doch nicht alle sterben im Kochtopf. Der Herd steht nämlich in der 86. Etage von Taiwans höchstem Wolkenkratzer, dem Taipeh 101. Rund zehn Prozent der Hummer erleiden beim schnellen Transport nach oben einen Schock und sterben an Höhenkrankheit.

Einem Erdbeben sollten die Tiere immerhin nicht zum Opfer fallen können, denn zwischen dem 88. und dem 92. Stock hängt der grösste Schwingungsdämpfer der Welt. Bei Erdstössen und Stürmen wirkt das 660 Tonnen schwere Pendel den Gebäudeschwankungen entgegen. Es ist recht häufig im Einsatz, denn unweit des Megaturms verläuft eine tektonische Bruchlinie, an der sich die eurasische und die philippinische Kontinentalplatte übereinanderschieben und den Boden fast täglich erzittern lassen.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich mich auf der Aussichtsplattform im 91. Stock oder zu Füssen des Turms sicherer fühle. In ernsten Schwierigkeiten wäre man im Notfall oben wie unten. Der ganze Bau ist eine Mutprobe. Mit dem 508 Meter hohen Monument haben Architekten und Statiker die Grenzen des Machbaren ausgelotet, Taipeh ein Wahrzeichen geschenkt und vor allem China gezeigt, wohin Patriotismus wachsen kann.

Ein Chinakohl als Mona Lisa

Chinesen reisen übrigens gern nach Taiwan, um sich anzuschauen, wie ihr Land aussehen würde, wenn nicht Mao Zedongs Kommunisten den Bürgerkrieg gewonnen hätten, in dessen Folge 1,5 Millionen Festlandchinesen unter Führung des nationalistischen Parteichefs Chiang Kai-shek nach Taiwan flohen. Mit ins Exil nahmen sie Hunderttausende Artefakte, die Chinas Kaiser in Peking gehortet hatten. Nur ein Bruchteil dieser weltweit grössten Sammlung chinesischer Kunstwerke kann heute im National Palace Museum ausgestellt werden – Malerei, Keramiken, Porzellan, Lack- und Kalligrafiearbeiten.

Stundenlang stehe ich mir mit unzähligen anderen Besuchern die Beine in den Bauch, um das Prunkstück der Ausstellung zu sehen – einen Kohlkopf. Als ich die umlagerte Vitrine endlich erreiche, ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass mich die Go-go-Girls an der religiösen Parade weniger befremden als die Begeisterung für diesen aus weiss-grüner Jade geschnitzten Chinakohl, an dem einige Heuschrecken nagen. Dabei gilt das wertvolle Gemüseimitat gewissermassen als Mona Lisa des Museums.

Ich schicke meinen nachhaltig verunsicherten Kunstverstand an die freie Luft, denn wo der Mona-Lisa-Kohl nah, ist in Taiwans wundersamer Welt auch die Büste der Nofretete nicht weit. In einer knappen Stunde Fahrzeit bringt mich der Bus von Taipehs Zentrum zu ihr an die Nordostküste. Dort haben Wind und Wetter auf einer Halbinsel bei Yehliu bizarre Formationen aus dem Kalkstein gemeisselt. Begeistert posieren die Besucher des Geoparks neben steinernen Pilzen, Dinosauriern und Feenschuhen.

Die berühmteste Figur ähnelt tatsächlich dem Kopf der Nofretete, auch wenn das ständige Salzwasserpeeling des Pazifiks der ägyptischen Königin poröse Wangen beschert und ihr Profil rundgeschmirgelt hat. Zur Selfie-Audienz darf sich nur nähern, wer geduldig in der Schlange ausharrt, bis alle Vordermänner genügend Fotos vom verwitterten Antlitz des Königinnenkopfes geschossen haben.

Regelwidrige Versuche, die Wartereihen zu umgehen, werden vom Aufsichtspersonal mittels schriller Trillerpfeifen geahndet. Touristendompteur ist in Taiwan also ein Beruf. Viel Spass dabei, aber ohne mich. Ich nicke Nofrete nur aus der Ferne zu und wandere an die Spitze der rund zwei Kilometer langen Landzunge. Dort schwirren statt Trillerkommandos endlich nur noch Schmetterlinge durch die Luft.

Die Neonreklamen schlagen jedes TV-Programm

Auf einer akustischen Landkarte Taiwans würden Nofretetes pfeifende Wächter eine besondere Markierung ebenso verdienen wie Taipehs Müllabfuhr. Die fährt am Abend durch die Viertel und spielt dabei in Endlosschleife eine rattenfängerwürdige Flötenfassung von Beethovens «Für Elise», damit die Leute ihren Abfall runterbringen. Taiwan ist Weltmarktführer in der Produktion von Hightechgeräten, verkauft mehr Notebooks, Mikrochips und Motherboards als irgendein anderes Land, hört sich dann aber so an, als wäre ihre Klangsoftware im Atari-Zeitalter stehengeblieben.

Ohne die lästige Müllmelodie wären die Abende im Hotel noch angenehmer. Dann könnte mein Leben in Taiwans Städten auch ein ewiges Stehen am Fenster sein. Langeweile ausgeschlossen. An sieben Tagen läuft ein 24-Stunden-Programm. Ich staune über die Endlosigkeit der Stadtlandschaft, über die Neonreklame, die nachts über die verspiegelten Fassaden von Taipehs Hochhäusern pulst, als regne es Sternschnuppen, über die Choreografie der hunderttausend Füsse auf den Strassen und über das Dickicht aus Wellblechbauten, das tief unter den Wolkenkratzer wuchert und von Zeiten erzählt, als Taiwan einst ärmer war als Länder wie Laos und Vietnam.

Im Hochhaus gegenüber sitzen noch am späten Abend hinter jedem Fenster Angestellte vor ihren Monitoren, Teetassen in der Hand und Aktenordner auf dem Tisch. Ich schaue in all die Büros wie in die Waben eines aufgeschnittenen Bienenstocks. Nach Feierabend fliehen viele Angestellte aus ihren Arbeitswaben und unternehmen einen schnellen Abstecher in den Nordwesten Taipehs, in den Badeort Beitou. Ich fliehe mit.

Sich in die Suppe legen

In Beitou ist die eigene Nase der beste Wegweiser. Stets dem fauligen Odeur folgen, der einen bereits am Bahnhof von Beitou mit Penetranz begrüsst, und schon bald steht man mitten im Hell Valley. Dicke Wolken weissen Wasserdampfes steigen aus dieser fast 4000 Quadratmeter grossen Grube auf. Ab und an lichtet ein kühler Luftzug den schwefelig stinkenden Nebel und gibt den Blick frei auf das jadegrüne Wasser, das bis zu 100 Grad heiss werden kann.

Ideal zum Eierkochen, aber um die Gedanken gerinnen und den Kopf glühen zu lassen, geht es besser in eines der 40 Grad kälteren Hot-Spring-Becken von Beitou. Die Strassen der Stadt sind gesäumt von Spa-Hotels und Badehäusern, die das Quellwasser direkt in ihre Pools und Privatbäder leiten und ihren Gästen komplette Wellnessprogramme anbieten.

Zu verdanken sind die Bäder einigen heimwehgeplagten Japanern. Die waren überglücklich, in Taiwan nicht auf ihre Thermalbäder, die berühmten «onsen», verzichten zu müssen, als die Insel von 1895 bis 1945 japanische Kolonie war. Es blubbert und sprudelt zwar im ganzen Land. Doch das Epizentrum von Taiwans heissen Quellen brodelt in Beitou. Perfekte Bedingungen, um das japanische Erholungskonzept der Entspannung im Bad nach Taiwan zu exportieren, und so eröffnete ein Geschäftsmann aus Osaka bereits 1896 Taiwans erstes Thermalquellenresort in Beitou.

Drei Arten heisser Quellen bietet der Badeort: säure-, schwefel- und eisenhaltiges Wasser, das bei Temperaturen zwischen 38 und 60 Grad Rheuma und Erschöpfung kurieren, bei Haut- und Leberproblemen helfen und auch die allerschlimmsten Muskelverspannungen wegschmelzen soll. Selbst der Gesündeste profitiert von der kreislaufanregenden Wirkung des heissen Wassers.

Ich entscheide mich für das öffentliche Freibad, das Herzstück von Beitous Bäderkultur. Hier entspannt man in kaskadenartig angelegten, brühwurstwarmen Becken. «Pào tāng» – sich in die Suppe legen, nennen die Taiwaner das Versinken in den heissen Fluten. Auf einer Tafel mit der Benutzerordnung des Bades mahnt Regel Nr. 9: «Es ist nicht empfehlenswert, länger als 15 Minuten in heissen Quellen zu verweilen», dies wird von einheimischen Badeprofis allerdings kollektiv ignoriert.

Ich muss bereits in der ersten Minute an die Hummer im 101 Taipeh denken, stelle das Denken dann aber schnell ein. Geist und Körper köcheln nur noch vor sich hin, und eine Entspannung von geradezu meditativer Qualität setzt ein. Mit erhitzten Knochen, schrumpeliger Haut und bestens durchblutet wage ich die Feststellung, dass heisse Quellen auf die Psyche der Badenden den gleichen Effekt haben wie Meditationen auf buddhistische Mönche – sie machen himmlisch gelassen und unendlich glücklich. Wer jemals mit seligem Gesicht in völlig entspannte Willenlosigkeit geglitten ist, glaubt fortan daran, dass man das Nirwana auch beim Baden erreichen kann.

Über die Autorin

Nicole Quint ist als freie Reisejournalistin nicht auf der Suche nach den grossen Abenteuern, sondern nach den vielen kleinen Geschichten, nach Absurditäten und Alltäglichkeiten, die ihr Einblicke in das Leben der anderen schenken.

www.quint-und-quer.de

Über den Fotografen

Thomas Schneider arbeitet als Tonmeister und Reisefotograf. In allen Ecken der Welt unterwegs, sucht er nach ungewöhnlichen Perspektiven und findet die spannendsten Motive oft in Asien. Taiwans Menschen, Städte und Naturräume waren für ihn echte Fotografengeschenke.

www.bildbaendiger.de

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