Hört, hört, was das Billett für vier Mann kostete!
Daniela Ingold hat einen echten Schatz geborgen: Die Solothurnerin fand bei ihrem Grossonkel mehrere über 100 Jahre alte Reiseberichte der Jassgruppe ihres Urgrossvaters Alfred Ingold. In einer langen Reportage dokumentiert Alfreds Schwager eine Reise von Lüterkofen ins Wallis anno 1920. Der Text ist ein Zeitdokument, eindrücklich und unterhaltsam.
Ausgabe: 139 Bearbeitung: Fabian Sommer Bild: Privatarchiv Daniela Ingold
Sie sei auf Perlen gestossen, sagt Daniela Ingold. Und die 44-Jährige aus Lohn-Ammannsegg (SO) übertreibt nicht. An einem Herbsttag mitten in der schlimmsten Phase der Coronapandemie findet sie in der Wohnung ihres Grossonkels zwischen Kartons und Büchern mehrere fein säuberlich in einem Papierumschlag verpackte Reiseberichte des Jassclubs «Sängerquartett». Mit der Gruppe war ihr 1959 im Alter von 75 Jahren verstorbene Urgrossvater Alfred Ingold vor über 100 Jahren regelmässig unterwegs. Verfasst hat die Reportagen Ernst Furrer, Alfred Ingolds Schwager.
Daniela beginnt zu lesen und wird sofort mitgerissen. «Ich war fasziniert, wie emotionsgeladen er seine Eindrücke und die Schönheiten der Natur schildert», erzählt sie. Besonders speziell: Die Wallisreise des Jassclubs, die der Autor in markigen Worten schildert, wäre beinahe ausgefallen, weil in Lüterkofen (SO), dem Heimatdorf ihres Urgrossvaters, 1920 eine Viehseuche ausbrach. Kurz vor dem Start gab es aber Entwarnung: «Schliesslich einigte man sich dahin, man könne die Reise ausführen. Von einer Seucheneinschleppung in die Gemeinde könne kaum mehr die Rede sein, da keiner von den Beteiligten mit einem Seuchengehöft in Berührung komme», schreibt Ernst Furrer.
Zum Glück fand die Reise statt, und zum Glück hat Daniela Ingold die Berichte über 100 Jahre später gefunden und dem Globetrotter-Magazin freundlicherweise zugestellt. Die Reportage, die wir hier in Auszügen wiedergeben und die auf unserer Website in voller Länge zum Download bereitsteht, ist ein eindrückliches Zeitdokument, spannend und manchmal zum Brüllen komisch. Viel Vergnügen beim Lesen!
Es geht los!
Schon seit bald drei Wochen lag das Reiseprogramm fix und fertig vor: Kandersteg–Gemmi–Zermatt–Gornergrat–Grimsel–Meiringen in dreieinhalb Tagen. Indessen ist es halb sechs Uhr geworden. Blitzartig geht es nun durch das Bernbiet hinauf und bereits um halb sieben Uhr befindet man sich im Bern-Hauptbahnhof. Welche Menschenmenge, die da ihre Reiselust entfaltet! Alles strömt dem Schalter «Lötschberg» zu. In der letzten Sekunde und mit energischer Kraft schwingt man sich auf den elektrischen Lötschbergzug, der im Moment bereits den Bahnhof verlässt.
Nachdem man für den Kleinsten, Alfred Ingold, hier in Kandersteg einen Stock ausgelesen hatte (in Solothurn war kein passender und kleiner genug für ihn zu finden), hüpfte man in einigen Sätzen zum Dorf hinaus, den Berg hinan. Hier gab es den ersten Halt, um sich gut einzurichten für den bevorstehenden Marsch. Auch für das leibliche Wohl zu sorgen, wurde nicht vergessen. Um 9.15 Uhr brach man wieder auf, und bereits unter gemütlichem und herrlichem Aufstieg traf man um 13.10 Uhr im Hotel Schwarenbach ein. Hier galt es wieder, dem Magen etwas zuzuführen. Nachdem dieser Akt vorüber war und man sich die herrlichen Bergriesen Altels und Balmhorn einen Augenblick ansah, schickte man sich an, den Weg fortzusetzen.
Auf der Passhöhe trafen wir herrliche Fernsicht: Vor uns direkt die Walliseralpen, welche wir zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Von ihnen ragten besonders das herrliche Matterhorn und die Monte-Rosa-Gruppe hervor. Auch nicht zu vergessen ist das Breithorn. Direkt vor uns – fast 1000 Meter senkrecht weiter unten in der Tiefe – liegt Leukerbad.
Es waren sieben Schläfer, die mit was für einem schweren Kopf aufstanden. Aber die Hauptsache an der ganzen geheimnisvollen Geschichte lag eben an dem Stock, den man dem Kleinen in Kandersteg ausgelesen hatte. Der wollte sich am Abend schon nicht mehr finden lassen, geschweige denn am Morgen mit einem etwas unklaren Kopf. Und siehe da, vor dem Abmarsch am Morgen bemerkt am Tisch ein Fräulein, sie hätte einen Stock dort und dort gesehen. Man sah nach und fand wirklich diesen geheimnisvollen Bergknüttel des kleinen Alfred.
Dessen Aufatmung kann man sich kaum vorstellen, als er wieder im Besitze seines Stockes war, hat er doch schon tags zuvor ein Druckli Zündhölzer auf unerklärliche Weise verloren. Oh der arme Tropf!
Ticket statt Tropfen
Nun, beim Abstieg nach der Station Leuk, hat man sich gegenseitig verschworen, auf dieser Reise keinen Alkohol mehr zu trinken, d. h. wenigstens nicht über das landesübliche Mass hinaus. Bergab und immer bergab gings, bis man endlich um 11.15 Uhr in Leuk-Susten ankam. Von hier führte uns der Zug nach einer kleinen Rastpause nach Visp, und um 13.50 Uhr fuhren wir mit der Bergbahn unserem Ziele vom zweiten Tage, Zermatt, zu. Aber hört, hört, was das Billett für vier Mann nach Zermatt und zurück kostete: sage und schreibe einhundertvier Franken vierzig Centimes! Ich dachte bei mir, trotz unserer Versprechung, dass dies manchen guten Tropfen gäbe, und damit entleerte sich eben das Portemonnaie des Kassiers, man weiss nicht wie. Aber item, man wagt es, man ist nun einmal da, hiess es.
Grossartige Fernsicht war hier oben, besonders bei diesem schönen Wetter. Um uns herum nichts als Firn und Gletscher und Berge mit ewigem Schnee. Prächtige Bilder boten uns rings herum die höchsten Spitzen, die eben im Momente von ein oder mehreren Kolonnen bestiegen wurden. Mit bewaffnetem Auge liessen sich die verschiedenen Kolonnen gut voneinander erkennen.
Hier fühlte man sich so recht erhaben. Kein Tun und Treiben ringsherum. Nichts von Gesprächen über Maul- und Klauenseuche. Man liess sich deshalb auch ruhig nieder und badete seine Augen in voller Gemütsstimmung in den um uns liegenden Naturschönheiten.
Gemütlich wanderte man dem Gletscher entgegen. In einer Stunde waren wir nach Traversierung eines steilen Felsabhangs auf dem Gletscher. Jetzt begann die Traversierung desselben. Über scheinbar grundlose Spalten galt es manchmal zu gelangen. Nach gemachten Mitteilungen der beiden Führer soll sich unter diesem Gletscher ein See ausbreiten.
Um 2.30 Uhr schon tönt der Ruf «auf!». Das Wetter ist günstig, hiess es, nur lässt sich die Kälte ein wenig fühlen. Nach einem einfachen Morgenessen traf man die Vorbereitungen zur Besteigung des Breithornes. Mit Pickel und Laterne, an Seilen aneinandergebunden, gings um 3 Uhr von der Hütte weg auf den ewigen Schnee. Der Aufstieg war ziemlich lang, jedoch nicht gefährlich und auch nicht zu anstrengend. In dieser Zwischenzeit hatten wir auch das grossartige Naturereignis eines Lawinenniederganges mit eigenen Augen mitansehen können.
Mächtige Staubwolken vermischten sich mit gewaltigem Donnergrollen – unbeschreiblich! Punkt 7 Uhr erreichten wir die Höhe des Zermatter-Breithornes auf 4171 Meter über Meer. Eisige Kälte herrschte hier oben. Trotz allen guten Unterkleidern blies der Wind einem nur so durch die Hosen, das hiess es auch: «und durch die Hosen pfiff der Wind!»
«Fertig, wär seit fertig, nüt isch fertig, I säg fertig, jetz isch fertig, fertig, abfahre!»
Herrlich war die Fahrt durch das Oberwallis. Keiner von uns hätte sich diese Fahrt so vorgestellt. Man glaubte durch eine halbe Wildnis fahren zu müssen, hatte man doch schon tags zuvor verabredet, es biete sich dann auf dieser langen Bahnstrecke Gelegenheit in einem gemütlichen Jass die Zeit zu kürzen. Aber auch nicht einen einzigen Augenblick dachten wir während dieser Bergfahrt ans Kartenspiel, geschweige denn je eine Karte zur Hand genommen zu haben.
Beim Gletscherübergang und beim Aufstieg auf das Grätli konnten wir noch einmal die Bergriesen des Wallis, mit denen wir uns tags zuvor bekannt gemacht haben, beschauen.
Im Weitermarsch schwand alsdann das schöne Bild und ein neuer, herrlicher Anblick entbot sich unsern Augen. Das Auge erspäht die Grimselpasshöhe mit den beiden himmelblauen, wunderschönen Seen. Nachdem man auf dem Nägelisgrätli für das leibliche Wohl gesorgt hatte, begann man den Abstieg zum Grimselhospiz.
Erwähnt sei noch der Handeckfall und die Ortschaften Guttannen und Innertkirchen. Weil die Zeit zu kurz bemessen, um den Zug in Meiringen zu erreichen, gings auf der Strecke von 5 km ob der Aareschlucht bis zu derselben per Kutsche. Um 16.45 Uhr langte man in Meiringen an. Die Zeit langte eben noch, um den grössten Durst zu stillen, und nachher gings dem Brienzer- und Thunersee entlang der Bundesstadt entgegen. Nachdem auch hier noch das leibliche Wohl befriedigt wurde, gings in feuchtfröhlicher Stimmung der Heimat zu.
Es ertönten noch einige Weisen im Zuge, und ohne dass man es merkt, ruft bereits der Kondukteur «Loterkofen-Lühn». Nun hat wieder ein anderer das Wort. «Fertig, wär seit fertig, nüt isch fertig, I säg fertig, jetz isch fertig, fertig, abfahre!»
Der komplette Reisebericht von Ernst Furrer, verfasst am 22. Dezember 1920, steht hier als PDF zum kostenlosen Download bereit.