Vorsicht, Stufe!

Im bunten Trubel der Strassen von Armeniens Hauptstadt Yerevan versuche ich, den Überblick zu gewinnen, und die richtige Marschrutka heranzuwinken. Meine Sprachkenntnisse sind rudimentär. Auch auf den lokalen Kleinbussen sind die Zielorte natürlich nur in den elegant herrischen Linien der armenischen Schriftzeichen angeschrieben, die für mich bis zum Ende meines viermonatigen Freiwilligendienstes hier Hieroglyphen bleiben. Mein polnischer Mitbewohner Michał steht ruhig im Hintergrund, während ich immer mal wieder nach vorne pirsche, um die Fahrer nach der Destination zu fragen.

Dann haben wir den richtigen Bus zum Bahnhof identifiziert und nun sollte es schnell gehen – ich halte die Türe frei, während sich Michał umständlich und in Zeitlupe am Haltegriff die drei steilen Stufen in den Bus zerrt. Sofort werden die Mitfahrenden auf uns aufmerksam, starke Arme greifen Michał unter, hilfsbereite Fahrgäste bedeuten dem Fahrer, noch zu warten und ein junger Mann macht sofort einen Sitzplatz für Michał frei. Wo wir denn hinwollen, werden wir gefragt und man werde uns Bescheid geben, wenn wir aussteigen müssen.

Allein fährt Michał selten mit diesen postsowjetischen Fahrzeugen. Zu stressig und hektisch ist das Einsteigen. Und ist kein Sitzplatz frei,muss er geduckt, ohne Möglichkeiten zum Festhalten, stehen bleiben. Die meisten Armenier sind wahre Gleichgewichtskünstler. Mit Leichtigkeit und Gelassenheit ziehen sie beim Einsteigen im freien Stand noch mit einer Hand die Schiebetür hinter sich zu, während der Fahrer bereits über eine holprige Schlaglochpiste davondüst. Ich kralle mich derweil stets wacklig an einer Sitzreihe fest. Für Michał ist das leider keine Option. Seine Bewegungen sind oft träge, steif und voller Anstrengung.

Michał leidet seit Geburt an einer neurologischen Erkrankung mit starken motorischen und visuellen Einschränkungen. Er gibt sich meist Mühe, das Leiden zu verbergen. Der Fokus soll nicht auf den Problemen liegen, er will sich auf das Positive konzentrieren, auf das, was möglich ist. Beim Skype-Vorstellungsgespräch mit unserer armenischen Aufnahmeorganisation hat er die Krankheit verschwiegen. Der Alltag in unserer dunklen Kellerwohnung hält jedoch viele Hindernisse und Stolpersteine für ihn bereit. Kleine Stufen im Zwielicht führen durch seine verminderte Sehkraft häufig zu schmerzhaften Stürzen. Manchmal ist er auf die Unterstützung Fremder angewiesen, und dann helfen wir ihm beim Gemüseschneiden, Rasieren oder Putzen. Während meine anderen Mitbewohner und ich jeden freien Tag durch das ganze Land trampen, verbringt Michał viel Zeit zu Hause in seinem kleinen, dunklen Zimmer und hört armenisches Radio. Ich habe ihm aber mindestens einen gemeinsamen Trip versprochen.

Also machen wir uns eines Tages auf zum idyllisch gelegenen Kloster Khor Virap. Michał ist heute überraschend gut zu Fuss, ich kann auf dem langen Feldweg kaum Schritt halten. Nur bei jeder Stufe oder Treppe stoppt er und braucht meinen stützenden Arm. Dann ist es, als würde die Zeit für mich einen Moment lang stillstehen. Auch gehen und reden gleichzeitig ist für meinen Mitbewohner schwierig. Oft hält er an, um das Gespräch weiterzuführen. Dann erreichen wir das aus dem 17. Jahrhundert stammende Kloster Khor Virap, das vor der Silhouette des Ararat thront. Der heilige Berg liegt jedoch auf der türkischen Seite der Grenze. Ergänzt wird die Szenerie von ein paar bunten Stofftüchern in den Bäumen nahe des Klosters. Eine alte Tradition, die Glück und Segen herbeiführen soll.

Michał sagt nachdenklich: «Ich habe bereits sehr viel Glück im Leben gehabt. Als Kind hatte ich viele Operationen und konnte mich oft gar nicht mehr bewegen. Jetzt bin ich zufrieden und habe einen guten Körper.» Auch im Alltag ist er dankbar, dass ihm immer wieder freundliche Menschen begegnen, die ihm helfen. Oft muss er sich auf die Unterstützung anderer verlassen. Tatsächlich habe ich noch nie die vielen kleinen Stufen, Anstiege und Unebenheiten am Boden so bewusst wahrgenommen wie an diesem Tag. Für Michał ist das jedes Mal, als hätte ihm jemand Steine in den Weg gelegt. Doch er hat sich daran gewöhnt, dass sein Weg immer wieder mal steiniger ist als der von anderen.

Wir haben viel Zeit, um den Ort zu erkunden. Die Langsamkeit schärft meine Wahrnehmung, den Blick für das Detail. Ich erkenne ein paar kleine Kiesel, die sich an den Aushöhlungen der Klosterwand verhakt haben. Man erklärt uns, dass es sich um einen alten armenischen Brauch handele: Kleine Steine werden gegen die Mauer geworfen und wem es gelingt, auf diese Weise einen Stein zu verankern und sich so im Kloster zu verewigen, dem gewährt das Schicksal die Erfüllung eines Wunsches.

Michał wartet ebenso geduldig, während ich die eindrucksvolle, hügelige Landschaft um das Kloster erkunde. Doch nicht nur die schwindelerregende Höhen, sondern auch die dunkle Tiefe der Einsamkeit sollen heute für Michał unerreichbar bleiben. Vorsichtig kralle ich mich an der eisernen, rutschigen Leiter fest und steige langsam hinab in den engen, sechs Meter tiefen Schacht. Das Verlies des Heiligen Grigors ist beklemmend, feucht und dunkel, die Luft ist knapp und stickig. 13 Jahre lang soll der Begründer der christlichen Kirche in Armenien der Legende nach allein hier unten in Gefangenschaft gewesen sein.

Michał hingegen bleibt in diesen Momenten des Wartens selten allein, immer sprechen ihn offene, freundliche Menschen an. Diesmal hat sich eine junge Australierin zu ihm gesellt und wir geniessen unser Mittagessen gemeinsam. Als wir Khor Virap daraufhin verlassen, hält kurzum ein Kleintransporter mit einer Gruppe heiterer Armenier und nimmt uns mit zurück nach Yerevan.

Es war ein ruhiger, schöner Tag mit vielen Pausen. Ich stelle fest, dass Michals Realität beim Reisen oft eine andere ist, seine Welt teils kleiner und langsamer. Die 200 Stufen hinauf zum Kloster Sewanavank kann er nicht gehen, meine Wanderung in die Basaltschlucht wäre für ihn undenkbar und das berühmte Felsenkloster Geghard ist durch seine einmalige Lage im Felsgestein eine Herausforderung. Auch ein oberes Etagenbett im Hostel bleibt für Michał unerreichbar.

Wenige Wochen nach unserem Ausflug bricht die Aufnahmeorganisation Michałs Freiwilligendienst überraschend ab und schickt ihn nach Hause. Er ist einfach nicht mehr da, als meine Mitbewohner und ich von unserem Seminar aus Georgien zurückkehren. Nachdem er erneut in der Wohnung gestürzt war, hat die Aufnahmeorganisation entschieden, dass sie nicht die nötigen räumlichen und persönlichen Kapazitäten für ihn habe.

Manchmal denke ich mit leichter Schwermut und Bewunderung an Michał. Dann gehe ich nachdenklich, aber auch dankbar und leichtfüssig über die alltägliche Kette von endlosen Treppen, unebenen, vereinzelten Stufen und anderen Stolpersteinen hinweg. Hin und wieder nehme ich kleine Kieselsteine in die Hand und werfe sie gegen eine der unebenen Mauern, in der Hoffnung, dass sie an ihr haften bleiben.

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