Zu Fuss von Bellinzona nach Lugano

«Komm, das machen wir», entfährt es Patrick und mir gleichzeitig. Hier regnet es und südlich der Alpen sind Sonnenschein und angenehme Temperaturen angesagt. Die nationale Route 2 (Trans Swiss Trail), die auf 32 Etappen und 488 Wegkilometern von Porrentruy nach Mendrisio führt, wartet mit zwei Etappen auf, die wie für das Wochenende gemacht scheinen. Sie führen von Bellinzona nach Lugano und sollten jetzt, Mitte März, schon schneefrei sein. Ein Bed and Breakfast ist rasch gefunden und gebucht.

Am Tag darauf sitzen wir frühmorgens im Zug in Richtung Süden. Regen prasselt gegen die Scheiben und graue Wolken ziehen an den Zugfenstern vorbei. Wir frühstücken gemütlich, während wir durch den Gotthard-Basistunnel jagen. Gespannt blicke ich zum Himmel, als wir den Tunnel verlassen und erspähe erste blaue Flecken. Als wir schliesslich in Bellinzona den Zug verlassen, werden wir von der warmen Morgensonne begrüsst. Wir brauchen nicht lange nach den gelben Wegweisern zu suchen, die uns vom Verkehr weg durch die autofreien Strassen von Bellinzona zu den Wanderwegen führen.
Wir folgen der nationalen Route 2 und tauchen bald einmal ins samstägliche Markttreiben der Stadt ein. Die Menschen strömen aus ihren Häusern in die Gassen und geniessen den milden Morgen bei einem Cappuccino auf der Piazza. Ich fühle mich weit weg versetzt. Die Italianità des Tessins, die bei den meisten Deutschschweizern Feriengefühle hervorruft, holt auch mich ein.

Wir wandern dem Ticino entlang nach Giubiasco, wo der Weg in einen Laubwald führt und stark ansteigt. Im Zickzack gewinnen wir rasch an Höhe. Die Bäume sind noch kahl, so dass sie uns immer wieder freie Blicke auf die Magadinoebene gewähren. Den Schatten der Bäume nehmen wir gerne, während wir beim Aufstieg so richtig ins Schwitzen kommen. Wir sind weit und breit alleine unterwegs und hören nur das Knirschen des letztjährigen Laubs unter unseren Wanderschuhen. Der Weg scheint in diesem Frühjahr noch kaum begangen zu sein. An einigen Stellen liegen die trockenen Blätter knietief auf dem Weg, was bei exponierten Passagen zu nicht ganz ungefährlichem, rutschigem Vorankommen führt. Auf der Cima di Dentro eröffnet sich uns ein weiter Blick über die Tessiner Bergwelt mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Die kleinen Talsiedlungen auf der einen und der Ballungsraum der Magadinoebene auf der anderen Seite. Über Wiesen mit ersten Frühlingsblumen und durch alte Kastanienwälder steigen wir auf der anderen Bergseite nach Isone im gleichnamigen Tal ab. Eine herrliche Mittagsruhe liegt über dem kleinen Örtchen. Durstig füllen wir unsere Flaschen am Dorfbrunnen auf.

Nach einem Picknick ziehen an liebevoll restaurierten Maiensäss vorbei zur Hochebene von Gola di Lago. Dieses Gebiet erfüllte während des Zweiten Weltkriegs den militärischen Zweck, allfällige feindliche Aktionen abzuwehren. Heute ist ausser dem Gesang der Amseln kaum ein Geräusch zu hören. Beim Abstieg ins Val Capriasca gelangen wir langsam wieder in die Zivilisation. Je mehr wir uns dem Talboden nähern, umso üppiger blühen die Wiesen und spriessen die ersten Bäume. Magnolienblüten öffnen sich zur Sonne und das Frühlingserwachen scheint auch auf die Talbevölkerung übergegriffen zu haben. In den Gärten wird gearbeitet, altes Laub weggewischt und die Häuser werden kräftig durchgelüftet. Mit Tesserete erreichen wir unser Tagesetappenziel. Bevor wir die Unterkunft suchen, machen wir es uns auf einer Parkbank mit einem grossen Gelato gemütlich. Das haben wir uns verdient! Beim Gedanken an den Regen im Norden schmeckt es umso besser. Es ist schwer vorstellbar, dass auf der Alpennordseite kaltes, nasses Regenwetter herrscht.

Das Bed and Breakfast ist schnell gefunden. Mit viel Liebe werden die gemütlichen Zimmer im alten Gebäude im Dorfzentrum gepflegt und die Gäste herzlich und mit Schokolade empfangen. Nach einer wohltuenden Dusche lassen wir uns abends ins Bett fallen.
Am Morgen strömt Kaffeeduft durch das Haus und im Frühstücksraum stossen wir auf einen reich gedeckten Tisch, mit allem was man zur Stärkung für einen Wandertag braucht. Man hört dauernd, die Schweiz sei zu teuer und zu wenig gastfreundlich. Den besten Beweis, dass dies zum Glück nicht überall zutrifft, haben wir hier gefunden.

Wir schnüren die Wanderschuhe, verabschieden uns von den Gastgebern und wandern bereits frühmorgens in kurzen Hosen durch die Dörfer. Auf Empfehlung verlassen wir heute den Trans Swiss Trail und steigen stattdessen in Sonvico in Richtung Denti della Vecchia auf. Die Alpe Bolle, die für ihre Polenta berühmt ist, liegt noch im Winterschlaf. Ein Grund mehr, im Sommer wieder einmal zurückzukehren, um die Polenta zu probieren. Von der Alp führt ein steiler Zickzackweg zum Gipfel des Monte Boglia. Oben angekommen, werden wir von einem unerwartet weiten Panorama empfangen: Über den Lago di Lugano blicken wir zum schneebedeckten Monte Tamaro und dem dahinterliegenden Lago Maggiore mit dem Monte Rosa und den Walliser Alpen im Hintergrund. Gegen Süden öffnet sich die Landschaft in Richtung Poebene.

Es folgt ein langer Abstieg nach Lugano und damit auch ein langsames Annähern an das Gewusel der Stadt nach der wohltuenden Ruhe und Einsamkeit. In Bré, einem hübschen Bergdörfchen mit steinernen Häusern und engen Gassen, strömen uns schon die ersten Ausflugstouristen entgegen. Auf einem Thermometer an einer Hauswand sehe ich, dass die Anzeige bei über 25 Grad Celsius steht. Schwitzend steigen wir über zahlreiche Stufen von Bré nach Gandria am Ufer des Lago di Lugano ab. Die Olivenbäume und exotische Früchte verleihen dem Ort einen mediterranen Charakter.
Auf dem Seeuferweg fühle ich mich weit in den Süden Italiens versetzt. Einfach alles wirkt so untypisch schweizerisch, dass es eine Wonne ist, dies im Heimatland zu erleben.

Je näher wir Richtung Stadtzentrum von Lugano gelangen, umso exotischer scheinen wir zwei Wandervögel zu wirken. Die Stadt hat sich, wie es sich für einen Sonntagnachmittag gehört, herausgeputzt. Frauen flanieren in hübschen Sommerkleidern, coole Jungs fahren ihre Cabrios aus und auf Gartenterrassen mit weissen Tischtüchern wird edel gespeist. Auf der zentralen Piazza gibt es an den Aussentischen der Cafés zwar keinen Platz mehr, doch verschwitzt und staubig wie wir sind, machen wir es uns auch gerne mit einem erfrischenden Milchshake in der Hand auf dem Boden des Platzes gemütlich. Uns stört es nicht, dass die Blicke der Passanten auf uns haften bleiben. Wir amüsieren uns über die fragenden Augen.

Wir schauen dem bunten Treiben zu, bis sich uns ein Mädchen mit einer Take-Away-Pizzaschachtel in der Hand nähert, diese uns entgegenstreckt und mit mitleidigem Blick fragt: «Wollt ihr ein bisschen Pizza?» Wir brechen zusammen mit ein paar Leuten, die die Szene beobachtet haben, in Gelächter aus. Die Reaktion des Mädchens ist aber gleichzeitig auch rührend. So unterschiedlich die Freizeitgestaltung und die Interessen der Freizeitmenschen auf der Piazza auch sind, irgendwie haben wir ja doch alle etwas gemein. Schliesslich sind wir doch alle aus demselben Grund hier: Weil wir das südliche Flair und die wohltuende Sonne des Tessins einfach lieben.

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