Die einsame Hütte am Strand

Schon eine Weile reisen Phil und ich mit «Willi», unserem alten Land Rover Defender, durch Nordamerika. Wir starteten in Halifax, Kanada. Nach der Durchquerung von Kanada und Alaska fahren wir kurz vor Weihnachten auf Vancouver Island ein. Als die Fähre bei Courtney anlegt, kann unser Insel-Roadtrip beginnen. Zu dieser Jahreszeit ist das Eiland ein absoluter Geheimtipp – keine Touristenmassen weit und breit, und das Regenwaldklima sorgt für entspannte Temperaturen.

Zuerst geht es in den Süden, zur Inselhauptstadt Victoria. Die unzähligen Parks, das Meer und die hippe Innenstadt machen uns das Verweilen ziemlich einfach. Nächster Halt ist Tofino. Das kleine Ostküstenstädtchen mit seinen langen Stränden ist ein Hotspot für Surfer. Jetzt ist es hier etwas ruhiger und wir können entspannt dem Meer entlangspazieren und in den Cafés das Treiben auf der Strasse beobachten.

Dann nehmen wir Kurs Richtung nordwestliche Inselspitze, zum Cape Scott Provincial Park. Mit seinen kilometerlangen, abgelegenen Sandstränden und einer Fläche von über 220 Quadratkilometern ist der Park ein Paradies für Naturliebhaber. Den Abend verbringen wir auf dem San Josef Heritage Camping, der sich mitten im üppigen Wald befindet und mit Picknickbänken und Feuerstellen ausgestattet ist. Für den nächsten Tag haben wir eine kleine Wanderung an den nahegelegenen Strand geplant.

Aber es kommt anders. Zwei Ranger erzählen uns von einer einsamen Hütte am Nels Bight, direkt am Strand. Phil und ich sind sofort Feuer und Flamme und beschliessen, die Wanderung von knapp 17 Kilometern in Angriff zu unternehmen. Die Männer sagen, dass die Hütte in den Sommermonaten als Forschungsstation genutzt wird, im Winter aber Wanderern zur Verfügung steht. In der Off-Season unterwegs zu sein, hat seine Vorteile.

Die Rucksäcke sind schnell gepackt, es kann losgehen. Der Trail führt durch dichten Regenwald mit hoch gewachsenem Farn, über schmale Holzstege und Baumstümpfe, die uns über matschigen Untergrund führen. Der Regenwald heisst nicht umsonst Regenwald. Fast 400 mm Niederschlag pro Monat kommt hier in den Wintermonaten runter. Doch wir haben Glück, der Tag verspricht Sonnenschein. Nach den ersten drei Kilometern kommen wir an einem kleinen Campingplatz vorbei, der idyllisch am Eric Lake liegt. Wir ärgern uns etwas, dass wir kein Zelt mitgenommen haben und setzen unseren Weg fort. Der Pfad führt abwechselnd über schmale Holzstege und Waldboden.

Nach weiteren sechs Kilometern gelangen wir zu einer Brücke. Wir machen eine kleine Rast und füllen unsere Wasserflaschen am Fluss auf. Mittlerweile sind wir schon über drei Stunden unterwegs und noch immer liegt die Hälfte des Weges vor uns. Der Matsch und die rutschigen Holzstege lassen uns nur im Schneckentempo vorankommen. Nach weiteren langen fünf Kilometern erreichen wir die Hansen Lagune, wo sich vor über hundert Jahren dänische Pioniere niedergelassen hatten. Überbleibsel zeugen davon: verrottete Zaunpfosten, verschlagene Schüsseln, altes Werkzeug und Kutschenräder. Dass hier mehrere Familien gewohnt haben und auch Gras und Getreide kultivierten, lässt uns staunen.

So langsam wird es dunkel und wir erreichen den letzten Abschnitt unserer Wanderung, einen dicht bewachsenen Wald. Da diese Gegend bekannt ist für Wölfe und wir alle fünf Meter Pfotenabdrücke sehen, beeilen wir uns. Dann ist es geschafft. Im Mondschein erreichen wir die Küste. Die Hütte ist nur bei Ebbe über den Strand zu erreichen. Bei Flut muss mit Geschick über angespülte Baumstämme balanciert werden. Zum Glück ist Ebbe. Wir halten Ausschau nach der Hütte und entdecken sie endlich.

Sie steht am Waldrand, zu erreichen über die Verlängerung der Terrasse, die das ganze Haus umgibt. Die Tür ist unverschlossen und wir treten ein. Ein grosser, dunkler und kalter Raum empfängt uns. Schemenhaft können wir die Einrichtung erkennen: zwei Tische, vier Stühle und ein grosser Holzofen. Gehacktes Holz liegt auch schon daneben und wir schmeissen den Ofen an. Als Licht dienen uns viele Kerzen und unsere Stirnlampe. Strom gibt es hier nicht. Von dem grossen Gemeinschaftsraum gehen zwei Schlafzimmer sowie eine Galerie ab. Ein kleiner Flur mit zwei verschlossenen Räumen – nur für die Ranger – führt zur Hintertüre. Wir bereiten unseren Schlafplatz in der ersten Etage vor. Die Galerie ist über eine steile Leiter vom Gemeinschaftsraum aus zu erreichen. Den Abend verbringen wir am Ofen sitzend, spielen Karten und trinken heissen Kakao.

Am Morgen können wir endlich bestaunen, wohin uns die Wanderung eigentlich geführt hat. Die langgezogene Bucht vor der Haustüre ist aus feinstem Sand. Der Strandabschnitt ist riesig und wir haben ihn komplett für uns allein. Das Wetter ist erneut auf unserer Seite und wir verbringen den ganzen Tag draussen in der Nähe der Hütte. Auf Spaziergängen erkunden wir die Umgebung. Wir finden unzählige Muscheln, vor allem aber ganze «Sanddollars». Das fragile, flache Gebilde aus Kalk, das Skelett einer Seeigelart, ist sonst meist nur in zerbrochen Stücken zu finden. An einem Baum entdecken wir eine improvisierte Schaukel aus Tauwerken, einen Holzgriff und einer angeschwemmten Boje als Sitz. Die muss natürlich ausprobiert werden. Als der Abend anbricht, bereiten wir auf der Aussenküche auf der Terrasse das Abendessen zu.

Am nächsten Tag wollen wir früh aufbrechen, denn «Willi» wartet auf uns. Und natürlich, wie könnte es bei so einem langen Marsch auch anders kommen, weckt uns Regen, der auf die Hütte prasselt. Trotzdem packen wir unsere Siebensachen zusammen und laufen das letzte Mal den Strand entlang, bis wir zu der Stelle kommen, wo der Pfad in den Wald abbiegt. Wir bleiben stehen und bewundern, was wir beim Hinweg in der Dunkelheit übersehen haben: Angespülte bunte Bojen hängen wie Lichterketten in den Bäumen. Die Bojen sind mit Namen und Datum von Wanderern markiert, die es bis hier hinaus geschafft haben. Einen Augenblick lang bestaunen wir das Kunstwerk und machen uns dann durch den Nieselregen auf den Rückweg.

Es erwarten uns wieder viel Matsch, nasse Holzstege und abgesägte Baumstämme, über die wir wie in einem Videospiel hüpfen müssen, wenn wir trockene Füsse behalten wollen. Nach einiger Zeit vergeht uns die Lust, den Weg hüpfend zurückzulegen und wir marschieren einfach durch den Schlamm. Pitschnass vom Regen und von den Pfützen kommen wir spätnachmittags endlich bei unserem Defender an. Erschöpft, aber zufrieden ziehen wir trockene Klamotten an, verstauen alles und machen uns auf zum nächsten Abenteuer.

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