Camping-Kosmos auf Spiekeroog

Spiekeroog. Ort meiner Sehnsucht. Manche wissen vielleicht, dass Spiekeroog eine Insel ist, manch einer weiss allenfalls, dass diese in der Nordsee liegt und vielleicht sogar, dass der Insel wegen der bemerkenswerten Flora und Fauna einst der Spitzname «die grüne Insel» verliehen wurde.

Wovon aber die wenigsten wissen, das ist der besondere Mikrokosmos des scheinbar profanen Zeltplatzes. Diese ganz eigene Welt ist das Geheimnis derer, die jedes Jahr aufs neue darin eintauchen.

Dieser kleine Kosmos ist kein Ort in exotischer Ferne und trotzdem fühlt es sich hier an wie in einer anderen Welt. Der Zeltplatz ist das erste, das man sieht, wenn man nach etwa 20 Minuten mit der Fähre von Festlanddeutschland in die Fahrrinne des Spiekerooger Hafens einfährt. Auf der linken Seite: Klitzekleine, weit entfernte Zelte mitten im Grünen, die als solche kaum zu erahnen sind. Der eingefleischte Spiekerooger Zelter kann spätestens ab jetzt die Füsse nicht mehr still halten.

Die Fähre legt an, die Rampe wird angedockt. Am Hafen stehen schon vorausgegangene Freunde, die darauf warten, die Neuankömmlinge zu empfangen. Es herrscht reges Durcheinander. Container, voll mit dem Gepäck der Passagiere, werden vom Schiff geladen. Jeder schnappt sich seine Sachen und wie durch ein Wunder geht nie etwas verloren. Ob zu Fuss, mit Handwagen, per Fahrrad oder Roller: Nach Ankunft der Fähre zieht sich eine Karawane den schmalen Weg bis zum westlichen Ende der Insel entlang.

Schon hier gibt mir die Insel das, was ich brauche, ohne es überhaupt gewusst zu haben. Ich nenne es den Geschirrspüler-Effekt. Es ist wie das Gefühl, wenn man in der Küche zu Abend isst und auf einmal geht der Geschirrspüler aus, den man bis eben gerade gar nicht wahrgenommen hat. Auf Spiekeroog gibt es keine Autos. Das bedeutet keine Abgase, keine Ampeln, kein Hupen, kein Motorenlärm und viel Entschleunigung.

Das Leben auf dem Zeltplatz lässt mich spüren, was ich wirklich brauche und vor allem, was nicht. Während sich die Welt um uns herum immer schneller dreht, haben die Uhren hier schon vor Jahrzehnten den Gegentrend eingeläutet. Seit den 1950er-Jahren hat sich an diesem Ort ein kleines Paralleluniversum entwickelt. Es ist der gelebte Gegenentwurf zum modernen Alltag, der die Attribute höher, schneller, weiter, besser ausser Kraft setzt.

Als mein Vater vor zwölf Jahren auf die Idee kam, mit mir und meinem besten Freund im Urlaub hierher zum Campen zu fahren, hatten wir «nur» mit ein paar Tagen im Zelt, am Strand und im Grünen gerechnet. Aber Spiekeroog ist viel mehr als ein Zeltplatz. Was dort am westlichen Inselrand zwischen den Dünen hervorlugt, ist ein Ort des Zusammenkommens. Er ist der Grund, warum sich die «Generation Weltreise» jedes Jahr auf einem kleinen Fleck an der spiessig anmutenden Nordsee trifft, um wochen- oder gar monatelang Freiheit zu geniessen.

Und jedes mal wieder blicke ich in ungläubige Augen, wenn ich jemandem zu Hause erzähle, dass ich – und eine ganze Menge anderer – tatsächlich, ja man glaubt es kaum, diesem Ort so viel Zeit meines Lebens widme. Wer sich überreden lässt, kommt vielleicht mal ein Wochenende zu Besuch und die meisten dieser Besucher verlassen die Insel nicht, ohne ein «nächstes Mal auf jeden Fall länger» über die Lippen zu bringen. Beim nächsten Mal sind es dann fünf Tage, später zwei Wochen und auf einmal sitzen auch sie im Januar zu Hause und füllen eine Anmeldung für den August aus, weil «ausgebucht» keine Option mehr ist.

Spätestens dann weicht auch das günstig erstandene Plastikiglu einem sturmsicheren Baumwollzelt einer Qualitätsmanufaktur. Denn nach einiger Erfahrung auf der blühenden Insel muss jeder irgendwann feststellen, dass das Wetter an der Nordsee recht wild sein kann.

So ist über die Jahrzehnte eine grosse Gemeinschaft mit den unterschiedlichsten Charakteren entstanden. Da ist Arjan, der seit seiner Jugend hier endlose Sommer verbringt und der es nach einigen Jobs in den lokalen Gastronomiebetrieben zum Saison-Barchef im Kultladen Old Laramie, den alle nur «Larry» nennen, geschafft hat. Biene kennt scheinbar jede Möwe und weiss immer genau, wo man sein Zelt am besten aufbaut oder wo bald wieder ein Platz frei wird. Lars betreibt seit 25 Jahren den Zeltplatzkiosk. Dieser ist nicht nur Treffpunkt, sondern sorgt mit seinem Sortiment auch dafür, dass niemand die Grenzen des Zeltplatzes verlassen muss, wenn er nicht will. Toni beginnt seinen Morgen stets mit einem kühlen Gläschen Sekt bei Lars und bestreitet den Tag damit, sämtliche Herausforderer im Backgammon zu besiegen. Die Münchnerin Alex ist seit Jahren fester Teil der «Larry»-Crew ist und regelt jeden Sommer den Schnapsverkehr. Der Schauspieler Max kommt seit Jahren mit seinen Eltern aus der Schweiz auf die Insel. Eigentlich waren sie immer im Dorf, bis Max den Zeltplatz eher durch Zufall entdeckte, nicht lange überlegte und im nächsten Jahr für drei Monate wiederkam.

Das ist nur ein winziger Teil eines harten Kerns, denn natürlich sind da noch all die anderen Menschen, die jedes Jahr mit vollgepackten Koffern die Reise hierher antreten, im Ungewissen, ob die Sonne scheinen wird. Aber Sonnenschein ist, wenn man ehrlich ist, zweitrangig. Was zählt, sind die Erlebnisse, das Beisammensein und der Austausch: Zu fünft auf einer Gasflamme ein Festmahl kochen, zusammen an der Spundwand gelehnt Wein trinken und den Sonnenuntergang bewundern, sich beim Volleyballturnier über den verdammten Nordseewind ärgern oder bis morgens im «Larry» kickern und tanzen.

Jedes Jahr begegne ich neuen Menschen, jedes Jahr hat wieder jemand Freunde mitgebracht, die die Gemeinschaft bereichern und obwohl ich mittlerweile genau weiss, warum ich herkomme und was mich erwartet, sind die Erinnerungen in jedem Jahr wieder anders.

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