Nervenkitzel am Ätna

Wie ein Verbrecher auf der Flucht laufe ich die Südflanke des Ätna hoch. Die Sonne ist bereits vor einer Weile hinter dem Horizont verschwunden, und die Szenerie ist unheimlich. Die Nacht ist rabenschwarz, weit entfernt ist dumpfes Donnern zu hören. Im Schein meiner Stirnlampe tänzeln viele kleine Ascheflocken. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sie für Schneeflocken halten. Das Atmen in diesem Ascheregen fällt mir schwer. Aber ich weiss, dass ich mich beeilen muss, wenn ich nicht zu spät kommen will.

Insgesamt sind es etwas mehr als 1000 Höhenmeter, die ich zurücklegen muss, um von meinem Ausgangspunkt, dem Rifugio Sapienza, bis zu den Gipfelkratern zu gelangen. Zum grössten Teil die körperliche Anstrengung, aber auch die Aufregung auf das, was mich oben erwartet, lassen meinen Puls auf jenseits von 180 Schlägen pro Minute steigen. Seit ich mit acht Jahren ein Buch über die Vulkane unserer Erde in die Finger bekommen habe, war es mein Traum, einmal einen Vulkanausbruch hautnah mitzuerleben. Gerade geistern die Bilder aus diesem Buch in meinem Kopf herum, während der Krater heisse Gesteinsbrocken durch die Luft schleudert.

Nach einer Stunde kommt der Gipfel mit seinen vier Kratern endlich in Sicht. Doch aus keinem von ihnen strömt Lava, es fliegen auch keine rotglühenden Gesteinsbrocken durch die Gegend. Das Einzige, was zu sehen ist, ist ein leichter orangefarbener Schimmer über der Voragine, dem Hauptkrater. Gelegentliche Explosionen im Inneren des Kraters zeugen von einem gerade abklingenden Ausbruch. Meine Enttäuschung ist riesig. Sollte alles umsonst gewesen sein? Seit einer Weile hatte ich die Aktivitäten des Ätna von zu Hause aus verfolgt. Nachdem sich im Herbst die Anzeichen eines bevorstehenden Ausbruchs gemehrt hatten, war es im Dezember endlich soweit. Der Ätna ist ausgebrochen. Eine der heftigsten Eruptionen der letzten Jahrzehnte überhaupt.

Schnell habe ich einen Flug nach Sizilien gebucht, meine Sachen gepackt und bin zum Flughafen gefahren. Dort angekommen, hätte ich mir am liebsten in den Hintern gebissen. Der Flug nach Catania war vorerst gestrichen. Logisch – die Aschewolke! Während ich mich über meine eigene Dummheit ärgerte, brach der Ätna gerade erneut aus. Wieder dauerte der Ausbruch nur wenige Stunden. Es entstanden 1000 Meter hohe Lavafontänen, Gesteinsbrocken flogen sogar 3000 Meter über den Kraterrand hinaus. Zu gerne wäre ich zu diesem Zeitpunkt bereits auf Sizilien gewesen. Stattdessen hiess es warten.

Doch plötzlich startete wider Erwarten das Check-in-Prozedere für meinen Flug. Wir flogen nach Palermo und wurden von dort mit Shuttlebussen nach Catania gebracht. Ein dritter Ausbruch ereignete sich, während ich im Bus sass. In Catania mietete ich ein Auto und fuhr rasch die Strasse bis zum Rifugio Sapienza hoch. Von da ging es zu Fuss über die Südflanke des Berges hoch. Und jetzt stehe ich endlich hier und bin tatsächlich zu spät.

So mystisch die Stimmung am Berg nach dem Ausbruch auch ist, meine eigene Stimmung ist gedrückt, als ich mich an den Abstieg mache. Ich habe aber die Hoffnung, dass der Ätna noch Reserven hat. Dieser letzte Ausbruch war bereits weit weniger heftig als die vorherigen, aber ich möchte keinesfalls schon wieder nach Hause reisen. Ich lege mich im Rifugio Sapienza schlafen, bin aber sehr unruhig. Immer wieder prüfe ich in Echtzeit den Tremor auf der Website des italienischen Instituts für Geophysik und Vulkanologie. Dieser zeigt sozusagen den Herzschlag des Berges an. Wird der Krater wieder aktiv, beginnt der Tremor zu steigen.

Um vier Uhr morgens ist es tatsächlich soweit. Plötzlich hellwach, schnappe ich meine Fotoausrüstung und stapfe den Pfad nach oben. Dieses Mal weiss ich, dass ich nicht zu spät kommen werde. Ich kann die Explosionen immer lauter hören, und eine gewaltige Aschewolke schimmert orangefarben über mir. Endlich sind die Krater in Sichtweite. Es zischt und donnert. Glühend heisse Lava wird explosionsartig über den Kraterrand geworfen. Die Bilder aus meinem Buch werden hier und jetzt vor meinen Augen Wirklichkeit. Wie gebannt schaue ich auf dieses Naturspektakel. Für einige Minuten sauge ich diese unbeschreibliche Atmosphäre auf und geniesse es, wie mein Kindheitstraum hier in Erfüllung geht. Dann beginne diese Feuershow zu fotografieren. Langsam bricht der Tag an.

Die Art dieses Ausbruchs unterscheidet sich von den vorherigen, viel aggressiveren Eruptionen. Die Lava schiesst nicht mehr aus dem Hauptkrater, sondern aus einem neuen Krater auf der Südostseite des Gipfels. Dieser Krater hat sich während der heftigen Ausbrüche der letzten Tage gebildet. Doch auch die Voragine und der Nordostkrater sind aktiv. Es ist kaum vorherzusagen, wie sich der Ätna nun verhalten wird. Durch meine Bergerfahrung weiss ich, dass ich wachsam sein muss. Ich bin ständig bereit, falls nötig sofort abzusteigen.

Langsam kommen auch andere Fotografen und Schaulustige dazu. Alle warten darauf, dass der Hauptkrater wieder durchzündet und sich erneut eine Lavafontäne bildet. Windrichtung und Heftigkeit wären in diesem Falle von fundamentaler Bedeutung für unsere Sicherheit. Plötzlich entsteht eine gewaltige Aschewolke entlang der Ostflanke. Ein pyroklastischer Strom, der sehr gefährlich werden kann. Das Gemisch aus heissem Gestein und Asche bewegt sich rasend schnell in Richtung Tal. Die Stimmung ist angespannt. Alle sind bereit, jederzeit das Weite zu suchen. Der Ätna ist während dieser Stunden komplett unberechenbar. Ich habe Ehrfurcht vor der Energie, die er ohne Vorwarnung freisetzen kann.

Der Tag vergeht wie im Flug und langsam bricht erneut die Nacht herein. Bei meinem hastigen Aufbruch in der letzten Nacht habe ich weder Essen noch Trinken eingepackt. Ich beschliesse, abzusteigen und mich erst einmal zu stärken. Unterwegs erfahre ich, dass sich auf der anderen Seite des Ätna, unterhalb des neu entstandenen Kraters, ein Lavastrom gebildet hat. Nach dem Essen mache ich mich auf die Suche. Der Strom fliesst durch das Valle del Bove an der Ostflanke. An einer Stelle mit Aussicht auf die beeindruckende Szenerie parkiere ich meinen Wagen. Ich blicke auf die brennenden Flanken des Ätna. Ich bin glücklich, nun auch noch einen Lavastrom sehen zu dürfen. Erst spät in der Nacht kehre ich zurück zum Rifugio und tanke etwas Schlaf.

Am nächsten Morgen ist die Aktivität des neuen Südostkraters ungebrochen, und ich beschliesse, diese Seite des Berges erneut zu erkunden. Mein Ziel ist es, mich in dieser komplett menschenleeren Zone so nah an den Krater zu wagen, wie es meine Vernunft erlaubt. Geschützt durch den tiefen Einschnitt des unwirklichen und rauen Valle del Bove nähere ich mich dem Krater bis auf ungefähr zwei Kilometer. Ich kann die Hitze des glühend heissen Gesteins regelrecht spüren und habe einen direkten Blick in das Innere des Kraters.

Im Laufe des Tages fällt mir auf, wie die Explosionen kleiner werden. Die Brocken fliegen nicht mehr ganz so hoch wie in den vergangenen Stunden, und der Lavastrom scheint nun nur noch sporadisch mit neuem Material versorgt zu werden. Ich steige ab und nehme mir Zeit, die Vulkandandschaft vertieft zu erkunden. Dabei entdecke ich Höhlensysteme, die wie perfekt geformte Tunnels aussehen. Während das Äussere eines Lavastromes bereits erstarrt, fliesst der weiche Kern noch weiter und lässt diese Hohlräume entstehen. Ich suche auch den südlichsten Gletscher Europas, der in einem der unterirdischen Höhlensysteme liegen soll, kann ihn jedoch nicht finden. Gegen Abend klingen schliesslich auch die letzten Aktivitäten am Gipfel ab, und der Ätna kommt wieder zur Ruhe. Ich bin überzeugt, dass er bald für neue Spektakel sorgen wird.

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