Höhenangst in Petra

 

«Inschallah», so Gott will, sagt Awad, und zuckt mit den Schultern. Mein Mann Urs und ich wollen mit ihm von Little Petra über das Felsengebäude Ad Deir, «das Kloster», zur Nabatäerstadt Petra wandern. Quasi durch die Hintertüre. Eben habe ich Awad gestanden, dass ich grosse Höhenangst habe und gefragt, ob ich den Weg trotzdem schaffen könnte. Im Streckenbeschrieb war von Trittsicherheit und Schwindelfreiheit die Rede – nicht meine Stärken.

Vor der Reise fand ich online eine genaue Ausführung der Wanderung mit eindrücklichen Bildern von wunderschönen, schroffen Landschaften. Mittendrin das Bild eines Felsüberhangs, unter dem der Weg durchführt und neben dem es senkrecht in die Tiefe geht. Bildunterschrift: «Hier kehren Leute mit Höhenangst besser um.» Und doch zieht es mich auf diesen Weg.

Jetzt stehen wir in Little Petra, oder Siq al-Barid, einer engen, schattigen Schlucht. Sechs Kilometer nördlich von Petra war dieser Ort in früheren Zeiten ein wichtiger Stützpunkt der Handelsleute und Rastplatz für die Kamelkarawanen. Nachdem wir eine gut erhaltene Tempelfassade und nabatäische Freskenmalereien besichtigt haben, wandern wir los. Das breite Tal, in dem wir auf einer staubigen Schotterpiste gehen, ist umrahmt von knubbeligen Felsen. Wir passieren Steinblöcke, die wie Zebras gestreift sind, skurril geformte Berge, von Löchern gesprenkelte Felsen und immer wieder Stellen in den Hängen, von denen wir nicht genau wissen, ob sie natürlich geformt oder von Menschenhand erschaffen wurden. Auch die Ausgrabungsstätte einer 9000 Jahre alten neolithischen Rundbau-Siedlung liegt auf dem Weg. Den Shuttleservice auf diesem ersten Wegstück lehnen wir ab. Wenigstens diesen Teil der Wanderung wollen wir geniessen, falls wir an der «Schlüsselstelle» umkehren müssen.

Eine Stunde später steigt der Weg zu einem Beduinenzelt an, das auf der Anhöhe weithin sichtbar ist. Dahinter fängt die schroffe Bergwelt mit Schluchten und Steilhängen an. In dem Zelt verbirgt sich ein Café, davor ist auf einer Tafel zu lesen: «Have a break, have a Kitkat». Die Schokoriegel gibt es nicht im Sortiment, Pause machen wir trotzdem. Wir sind fast die einzigen Gäste und werden mit süssem Tee und Gebäck bewirtet. Awad versorgt uns mit Karamellbonbons und sagt: «Ihr braucht jetzt Energie». Mich zieht es weiter, Awad lässt sich aber nicht drängen, gemütlich trinkt er seine Cola. Nach den paar Metern Anstieg die wir bis hierhin zurückgelegt haben, braucht er die Pause deutlich dringender als wir.

Die Bergkulisse ist fantastisch. Trockenes, felsiges, spektakuläres Gebiet mit Ausblicken, die weit ins Wadi Araba reichen. Auf dem breiten, auf der Talseite mit einem niedrigen Mäuerchen begrenzten Treppenweg kann auch ich die Umgebung vorerst ohne Schwindel und Herzklopfen bewundern. Urs und Awad bringen mich jedoch fast zur Verzweiflung. Immer wieder bleiben sie stehen – hier ein Adler der vorbeisegelt, dort ein Felsen, der aussieht wie ein Gesicht. Wir kommen nicht vom Fleck. Nur wenige andere Wanderer begegnen uns in der einsamen Gegend. Awad nimmt mein Handy: «Setz dich mal auf das Mäuerchen. Das gibt ein super Foto.» Nach einem vorsichtigen Blick über die Wegbegrenzung, hinter der es steil hinunter geht, posiere ich mit gebührendem Abstand davor.

Meine Nerven flattern immer stärker. Ich will jetzt nur noch an diesem Felsüberhang vorbei. Der Weg und das Mäuerchen hier sehen neu gemacht aus. «Ja, hier musste man sich um den Felsen herumtasten», sagt Awad, «aber in der Covid-Zeit wurde der Weg renoviert». Und dann sehe ich weit vor uns den Felsüberhang, der unter dem der Weg durchführt. Rechts davon geht es in die Tiefe. Nur zu gut hat sich das Bild aus dem Internet in meinem Kopf festgesetzt. Von hier ist nicht abzuschätzen, wie breit die Stelle ist. Angst schleicht in mir hoch. Urs versucht mich zu beruhigen und aus Awads Handy dudelt plötzlich laute arabische Musik. Ich brauche jetzt keine Ablenkung, nur gute Nerven! Schritt für Schritt weiter, der Weg ist immer noch breit, dann die letzte Kurve, hinter der die entscheidende Stelle liegt: Der Weg ist breit und auch dort mit einem Mäuerchen begrenzt! «Ich habe doch gesagt, der Weg wurde renoviert.» Awad grinst schelmisch. Uff, dann war alle Angst umsonst. Ein Stein fällt mir vom Herzen. Problemlos umrunden wir den Felsüberhang. Geschafft!

Kurze Zeit und einige Treppenstufen später erscheint in der Ferne das monumentale Felsenkloster Ad Deir. Ein Hühnerhaut-Moment! 48 Meter hoch, 47 Meter breit, vollständig aus dem Fels gehauen erhebt sich das Bauwerk vor uns. Wir stehen ehrfürchtig vor dieser unglaublichen Fleissarbeit der frühen Steinmetze. Wir können nur staunen, was diese Menschen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Werkzeugen und Hilfsmitteln zustande brachten.

Hier, weit oberhalb von Petra, hat es jetzt am späteren Nachmittag nur wenige Touristen. Alle Anspannung der letzten Stunden ist weg. Das Sonnenlicht fällt weich auf die gelb und rot marmorierten Felsen und wir können das Kunstwerk in Ruhe geniessen. Jetzt trennen uns nur noch 850 Treppenstufen vom Talboden der Nabatäerstadt Petra. Inschallah!

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