Mission Polarlicht

Wir kauern uns in die enge Schutzhütte und hören mit Ehrfurcht dem peitschenden Wind zu. Gerade mal zwölf Kilometer liegen hinter uns. In Anbetracht der Wetterlage erwachen in uns Zweifel, ob wir die Übernachtungshütte bis zum Einbruch der Dunkelheit erreichen können. Wir haben keine Ahnung wie das Terrain vor uns aussieht und überlegen, wie es weitergehen soll.

Der Wunsch, das Polarlicht zu erleben, lockte uns bereits dreimal ins winterliche Skandinavien. Leider erfolglos. Jetzt, beim vierten Mal, versuchen wir es noch ein wenig nördlicher und ein bisschen weiter abseits der Zivilisation. Wir sind mit Langlaufskiern von Hütte zu Hütte auf 110 anfängertauglichen Kilometern von Abisko nach Nikkaluokta auf dem nördlichen Kungsleden – ein Fernwanderweg in Schwedisch-Lappland – unterwegs.
Vor knapp 36 Stunden standen wir voll motiviert und aus unserer Sicht perfekt ausgerüstet am Ausgangspunkt der Tour. Nach der Planung blieb gedanklich am Ende nur eine unsichere Variable übrig: Das Wetter. Die Ankündigung von starkem Wind erschien uns subjektiv und so liefen wir bei Sonnenschein unbeirrt los. Noch etwas staksig glitten wir durch die spärlichen Wälder zur Schutzhütte Abiskojaure. Schon auf dem letzten Teilstück nahm der Wind merklich zu. Mit ihm kamen auch die Wolken, die den Wetterwechsel prophezeiten und uns die Hoffnung, am Abend Nordlichter zu sehen, bereits nahmen.

Wieder zischt eine Windböe durch das Kaminrohr und reisst uns aus unseren Gedanken. Wir sammeln uns kurz und fällen eine Entscheidung: Wir gehen weiter. Trotz des starken Windes werden wir unerwartet nach nur drei Stunden und mit aufkommender Dämmerung belohnt: Als wir erschöpft die Übernachtungshütte Alesjaure erreichen, werden wir liebevoll mit einem heissen Tee begrüsst.
Auch am nächsten Tag reisst der Wind nicht ab und die Aussage des Hüttenwartes vom Abend «there might be a little snow» – vielleicht wird es etwas Schnee haben – stellt sich als untertrieben heraus. Aber für heute steht nur eine kleine Etappe bis zur Tjäkta-Hütte, kurz vor dem gleichnamigen Pass auf 1140 Metern Höhe, an. Bei immer tiefer werdendem Schnee und heftigem Wind steigen wir stetig auf. Himmel und Landschaft gehen in einem undurchdringbaren Weiss nahtlos ineinander über.
Beim Hinaufgehen zeigt sich immer deutlicher, dass wir bei der Wahl unserer Skier nicht den glücklichsten Griff gemacht haben. Für dieses Gelände bräuchte man Cross-Country-Ski, bestenfalls mit Steigfällen, doch wir haben nur schmale Langlaufski ohne Kanten. Ganz offensichtlich haben wir am falschen Ende gespart. Der feuchte Neuschnee erschwert den Aufstieg buchstäblich. Er pappt mit jedem Schritt unter den Skiern fest, mit der Zeit schleppen wir ein gutes Extrakilo pro Ski. Wir sind froh, als wir die Hütte erreichen. Die Erkenntnis, auch die dritte Nacht ohne Nordlichter zu verbringen, rückt nach der Anstrengung fast in den Hintergrund.

Der viele Neuschnee macht uns Respekt hinsichtlich der anstehenden Passüberquerung. Doch nach dem gestrigen Tag sind wir begeistert, wie einfach wir durch den frischen Schnee gleiten. Zumindest bis zu dem Punkt als wir den Pass überqueren. Der Wind weht, wie schon gewohnt, stark. Was dazu führt, dass sich Massen an Pulverschnee am Hang festsetzen. Ein normales Abfahren ist mit unseren Langlaufskiern unmöglich. In unzähligen Kehren gleiten wir langsam hinab. Hie und da verlieren wir bei den Wendungen das Gleichgewicht und landen bis zur Hüfte im Schnee. So kämpfen wir uns fast drei Stunden lang den Hang und die etwas über 300 Höhenmeter hinunter. Die Nacht verbringen wir in der kleinen Sälka-Hütte und gerade rechtzeitig zur Dämmerung ist auch der Himmel wieder zugezogen…

Top motiviert rüsten wir uns anderntags für die kurze 13-Kilometer-Tagesetappe. Als wir aus der Hütte treten, zeigt das Thermometer erfrischende minus 20 Grad Celsius und eine neue Farbe bereichert die Landschaft: strahlendes Blau am Himmel. Sogar der Wind hat abgenommen. Der Weg ist gut gekennzeichnet, ungefähr alle fünf bis zehn Meter stecken Markierungen im Schnee und weisen die Richtung. Bald werden wir erfahren, warum hier so akribisch gearbeitet wurde.
Nach gut sieben Kilometern machen wir eine erste Pause und nehmen uns in Anbetracht der kurzen Tagesetappe viel Zeit für heissen Tee und Erdnüsse. Aus dem Fenster der Schutzhütte bewundern wir die immer grösser werdenden Schneefahnen an den umliegenden Gipfeln und freuen uns, dass der Wind heute ein paar hundert Höhenmeter über uns tobt. So gehen wir unbekümmert weiter.
Doch nur eine Stunde später erreicht uns die volle Wucht des Windes und erleben das komplette Winterwetterprogramm des Kungsleden und unser erstes Whiteout. Im Schneegestöber lassen sich gerade noch die nächsten Wegweiser schemenhaft ausmachen und so die Richtung erahnen.
Mit dem Wissen, dass die nächste Hütte nicht mehr weit ist, geniessen wir diese gewaltige Natur. Kurze Zeit darauf, als das Tosen des Windes dem Höhepunkt entgegengeht, gesellt sich ein lautes Heulen in die Geräuschkulisse. Zwei Hundeschlitten tauchen aus dem weissen Nichts auf. Ausgelassen springen die Huskys durch den Schnee, als ob der gewichtige Schlitten nicht existieren würde. Sie sind voll in ihrem Element. Auch wenn wir die eindrucksvolle Szenerie begeistert in uns aufsaugen, freuen wir uns doch, wenig später die Hütte Singi zu erreichen und die Tür hinter uns schliessen zu können.

Am nächsten Tag scheint die Sonne, als wäre nichts gewesen. Es liegt nur noch ein kleiner Pass vor uns, nach dessen Überquerung wir mit ein paar entspannten Abfahrten in ein Tal gelangen. Unsere Fertigkeiten haben sich in den letzten Tagen anscheinend doch verbessert. Auf dem weiteren Weg zum Tagesziel der Kebnekaise Fjellstation hat der Wind so kräftig geblasen, dass mit abnehmender Höhe der Schneebelag teilweise sogar verschwunden ist.
Die Station ist bereits ein Aussenposten der Zivilisation. Hier gibt es eine heisse Dusche, ein Café und ein richtiges Frühstücksbuffet – purer Luxus nach fast einer Woche im Schnee. Und obwohl wir so einige Male in den letzten Tagen geflucht haben, vermissen wir unseren Mikrokosmos aus Abgeschiedenheit und kleinen, gemütlichen Hütten schon jetzt. Die Nacht ist zum ersten Mal klar, aber heute verdecken die Gebirgsmassive die Weitsicht – wieder keine Nordlichter. Unsere Zuversicht verflüchtigt sich langsam,  aber sicher.
Nach weiteren 20 Langlaufkilometern erreichen wir dann am letzten Tag Nikkaluokta. Das Wetter sieht weiterhin stabil aus, der Blick ist frei und die Hoffnung auf einen sprichwörtlich leuchtenden Abschied keimt in uns auf. Wenn nicht heute, wann dann?
Bis es dunkel wird, vertreiben wir uns den Nachmittag in der Hütte mit ausruhen und essen im Wechsel. Das Fenster in unserem Zimmer zeigt direkt nach Norden und bietet einen warmen Beobachtungsposten. Als es dunkel wird, drücken wir die Nasen am kalten Fenster platt. Und dann tatsächlich: Zunächst sind wir nicht sicher, ob es sich um den zaghaft leuchtenden Schleier einer vom Mond angestrahlten Wolke handelt oder ob es tatsächlich ein Nordlicht ist. Aber das Strahlen wird stärker und die «Wolke» beginnt zu tanzen. Rasch sind wir dick eingepackt und schnappen uns Fotoapparat und Stativ. Staunend stehen wir in der eiseskalten Nacht, über uns flackert das Nordlicht.
Mission erfüllt!

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