Sieben Schweine für die Braut

«Du fliegst nach Papua? Wo liegt denn das eigentlich genau?» Als ich von meiner Reise erzähle, schaut mich meine Freundin Sabrina fragend an und googelt erst mal mein Urlaubsziel. Das Handy lädt, und schliesslich steckt die Nadel nördlich von Australien. Papua klingt irgendwie weit entfernt und abenteuerlich. In meiner Vorstellung ist es einer der letzten weissen Flecken der Erde. Kopfjäger, gefährliche Riten und Kannibalen gibt es da. Irgendwo. Oder doch nicht mehr? Und tragen die da nicht so einen Penisköcher? Vor vielen Jahren erzählte mir eine Freundin in der Schulpause kichernd, dass sie so einen lustigen Film im Biologieunterricht gesehen hätten. Das tradierte Schulwissen von anno dazumal schwirrt nicht fassbar in meinem Kopf herum.

Die Anreise nach Wamena in der indonesischen Provinz Papua treibt meinen Adrenalinpegel nach oben. Eine wochenlange Wanderung durch den Dschungel, um in die Stadt «vor der Wildnis» des Baliem-Tals zu gelangen, ist heute nicht mehr nötig. Der Nervenkitzel ist jetzt vielmehr technischer Natur. Unser Flugzeug ruckelt und hüpft über die Landebahn. Ist das normal? Normalerweise habe ich keine Flugangst, doch jetzt klammere mich an den Armlehnen fest und schliesse die Augen. Endlich kommt der Flieger neben dem Blumengarten des Terminals zum Stehen. Puh, geschafft!

Beim Blick auf die zusammengeschusterten Wellblechplatten wird mir bewusst: Der Begriff «Terminal» trifft es nicht ganz. Das Gebilde sieht ein bisschen so aus wie das Bauwagendorf am Görlitzer Park in Berlin. Ein Mann steuert auf mich zu. Check, das Biologiewissen von damals stimmt: Schon am Flughafen begegnet mir der erste Mann mit Penisköcher. Lediglich sein bestes Stück steckt in der Kalebasse. Der Rest ist – nun ja – den Blicken freigegeben. Aus einer Welt kommend, wo alle zumindest so halbwegs angezogen sind, weiss ich nicht so recht, wo ich hinschauen soll. Doch den Greis stört meine Verlegenheit nicht. Er schwenkt unbeeindruckt eine Handvoll Ketten mit Anhängern aus Wildschweinzähnen vor meinen Augen hin und her und blickt mich mit einem fast zahnlosen Grinsen an.

Während unser Grüppchen in einem uralten Bus den holperigen Weg zum Hotel fährt, sehe ich nicht nur spielende Kinder und Lasten tragende Frauen. Auch der eine oder andere Mann mit nacktem Hintern trottet gemächlich am Wegesrand entlang.

Als Höhepunkt dieser Reise steht das Schweinefest des Dani-Stammes auf dem Programm. Nach einer kleinen Wanderung durch die Baliem-Berge gelangen wir in Begleitung des Papua-Experten Madi zu einem Pfad im Nichts. Wir müssen etwas warten, denn der Dorfchef ist noch nicht da. Eigentlich soll hier der Dani-Weiler sein. Doch wo man auch hinschaut, alles ist gras- und blattgrün. Nur ein einsamer Holzpfeiler steht da. Schliesslich kommt der Chef mit den Dorfbewohnern den Pfad hinauf und klettert auf den Holzmast. In fünf Metern Höhe heisst er uns mit merkwürdigen und bedrohlich klingenden Lauten willkommen. Die anderen unterstreichen seine Darbietung mit Geheule und rhythmischem Tanzen. Oh je – war es eine gute Idee, hierherzukommen? Irgendwie sind sie furchteinflössend, diese Dorfbewohner. Sie haben sich mit weisser Farbe angemalt und mit Baströcken und Federn geschmückt.

Unwillkürlich weiche ich einen Schritt zurück und blicke die anderen an. Reiseausflug hin oder her – meine Handvoll europäischer Weggefährten sehen jetzt auch so aus, als ob sie sich nicht so ganz wohlfühlten in ihrer von der Wanderung verschwitzten Haut. Doch schliesslich kommen die Dorfbewohner mit einem freundlichen Grinsen auf uns zu und schütteln mir und den anderen mit einem «wa, wa, wa» – danke – die Hand. Der Händedruck hat genau die richtige Mischung aus sanft und kräftig, und ich bin beruhigt.

Dem Bergpfad entlang gehts zum Weiler. Auf dem Dorfplatz stimmen sich die Bewohner lautstark auf das grosse festliche Ereignis ein. Die Frauen bilden eine Gasse und laufen abwechselnd hindurch. Sie klatschen und singen zu den Rhythmen ihrer Vorfahren. Die Baststrippen, zwischendrin auch mal eine aus buntem Plastik, und die Federn des Kopfschmuckes hüpfen mit ihren Trägerinnen um die Wette. Ich bekomme Lust mitzutanzen und wippe ein wenig hin und her. Ein kleiner Junge lugt hinter dem Bastrock seiner Mutter hervor und schaut mir bei meinen Bemühungen skeptisch zu.

Madi übersetzt, was Milius, der 40-jährige Dorfchef, uns sagt: «Ich freue mich, dass ihr hier seid und uns so eine Einnahmequelle ermöglicht. Wie heissen euch ganz herzlich willkommen, den Tag mit uns zu verbringen. Normalerweise feiern wir das Schweinefest bei Hochzeiten, und die Familie des Bräutigams muss für die Braut sieben Schweine zahlen.» Mit Schweinen zeigt man im Baliem-Tal also, was man hat. Sie fungieren quasi als Statussymbol und Kreditkarte in einem.

Zu unseren Ehren muss zum Glück lediglich ein Schwein dran glauben. Nach dem Tanzen geht es diesem an den Speck. Mir schwant, dass dieser Tag für mich Grossstädterin neue Erlebnisse bringen wird, von denen ich noch nicht weiss, wie ich sie verkraften werde. Bis zum heutigen Tag hatte das Tier hier ein angenehmes Leben. Es bekam gutes Futter, Auslauf und wurde in seinen Kindertagen sogar mit Flaschenmilch aufgezogen. Doch heute ist Schluss mit Familiensinn, und zwei Frauen laufen los, um es einzufangen. Das Tier spürt, dass etwas im Baliem-Busch ist. Eben noch recht zutraulich, läuft es seinen Häscherinnen immer wieder davon. Schliesslich gelingt es den Frauen, das Schwein an eine Hüttenwand zu drängen. Sie tragen das ohrenbetäubend quiekende Tier an Ohren und Beinen zu Milius.

Der Dorfchef steht schon mit Pfeil und Bogen bereit, um das Leben des Schweines mit einem gezielten Schuss in das Herz zu beenden. Die Kinder schauen interessiert und mit grossen Augen zu. Ich kann das Quietschen kaum ertragen, halte mir die Ohren zu und nehme mir vor, nach diesem Erlebnis sofort Vegetarierin zu werden. Während Milius den Bogen spannt, treten die Muskeln an seinen Oberarmen und Schultern deutlich hervor. Der Pfeil verlässt die Sehne des Bogens, und ich drehe mich schnell weg. Dabei schaue ich genau in die Augen eines kleinen, schielenden Mädchens, das sich wohl wundert, warum ich mir dieses grosse Ereignis entgehen lasse. Einen Lidschlag später hat das Schwein seinen letzten Atemzug getan.

Bei der Zubereitung des Festmahls greifen die Dani auf eine lange Tradition zurück. Sie erhitzen faustgrosse graue Steine im Feuer, teilen Äste an der Spitze und nutzen diese so als Grillzangen, mit denen sie die heissen Brocken vom Feuer auf das Gras transportieren. Gross und Klein hilft mit, die Steine zu verlegen. Ein vorwitziger Junge, kaum grösser als einen Meter, läuft mit einem heissen Klumpen nur eine Handbreit an mir vorbei und grinst mich stolz an. Ich mache mir Sorgen um meine nackten Füsse. Doch der Vorgang verläuft ohne Zwischenfälle. Denn auch die Jüngsten bewegen sich inmitten des Gewusels ihrer Mütter, Tanten, Nachbarinnen und zwischen an Pinzetten hängenden heissen Steinen schon wie die Profis. Schliesslich garen Süsskartoffeln, Gemüse, Pandanus (Rotfrucht) und natürlich das Schwein in einer raffinierten Gras-Stein-Konstruktion, die mit Weidenruten festgezurrt wird. Die Wartezeit verkürzen sich die Frauen durch chorartige, rhythmische Gesänge, die seltsam beruhigend wirken und einen die Zeit vergessen lassen. Obwohl, was zählen in diesem Weiler eigentlich Tage und Stunden? Mit diesem harmonischen Bild vor Augen fühle ich mich ohnehin wie in der Steinzeit.

Hatte ich gesagt, dass ich Vegetarierin werde? Natürlich werde ich keine Vegetarierin! Dieses Festessen wäre jedenfalls ein denkbar schlechter Start für diesen zarten neuen Vorsatz. Denn schon zwei Stunden später probiere ich das leckerste Schweinefleisch meines Lebens. Das Tier hätte, wenn es das hier gäbe, bestimmt alle Bio-Siegel dieser Welt bekommen. Es schmeckt jedenfalls fantastisch, und die Freilandhaltung können alle Anwesenden bestätigen. Als Beigabe noch etwas rote Sauce? Die Frau, die die Pandanus zu einem Brei vermatscht, bedeutet mir, davon zu probieren. Die Rotfrucht wird zwar als Delikatesse gehandelt, doch bis auf die Farbe vermag sie mich nicht zu beeindrucken. Als einziges Lebensmittel, das wir hier probieren dürfen, schmeckt sie neutral und fade.

Ich gebe Jessica, einem zwölfjährigen Mädchen, meinen Fotoapparat. Sie strahlt mich an, als hätte sie im Lotto gewonnen, und flitzt los, um ihre Tanten und Freundinnen zu fotografieren. Als sie zurückkommt und auf das Display zeigt, muss ich lachen. Sie hat so viele Fotos gemacht, dass die Speicherkarte voll ist. Leider kann ich ihr das nicht erklären, da sie nur die Stammessprache und Indonesisch spricht und mein Indonesisch sehr rudimentär ist. «Tidak Foto» – kein Foto, versuche ich mich. Sie scheint zu verstehen. «I have to delete», erkläre ich weiter. Nur um überrascht zu hören, wie mir alle Kinder im Chor «I have to delete» nachsprechen. Doch zu mehr als Nachplappern reicht es noch nicht. Ich lösche ein paar misslungene Aufnahmen, viele sind es nicht. Beim Durchklicken der Bilder bin ich überrascht: Mitten im Baliem-Gebirge schlummert ein Fototalent. Dafür, dass sie vermutlich noch nie eine Kamera in der Hand gehalten hat, sind ihre Aufnahmen fantastisch. Aber mit dieser Gabe wird sie wohl nie etwas anfangen können. Die Mädchen hier heiraten jung.

Ja, unser Besuch ist eine arrangierte Sache. Heute hat keiner der Anwesenden geheiratet. Dennoch, alles läuft so ab wie auch sonst auf einem Schweinefest. Ich hatte selten einen so interessanten Tag auf meinen Reisen. Die Freundlichkeit dieser Menschen, die Neugier der Kinder, die wirkliche Nähe zu etwas so Exotischem hauen mich um.

Als ich mich umdrehe und weggehe, kommt mir Jessica hinterhergelaufen. Sie hält als Geschenk eine selbst gemachte Kette aus grauen, glatten Blumensamen in der Hand. Das Mädchen hat sie aus dem kleinen Dorfladen, in dem mir einer der Ältesten eben noch etwas verkaufen wollte. Als kleines Dankeschön, weil sie meine Kamera ausprobieren durfte. Ich bin von der kleinen Aufmerksamkeit gerührt und umarme sie spontan. Sie strahlt mich an.

Jetzt müssen wir diese Zauberwelt schon wieder verlassen. Habe ich das heute wirklich alles erlebt? Bei einem Blick zurück sehe ich, dass die Kinder winken und lachen. Der Start in die «richtige Welt» am nächsten Tag klappt problemlos. Schade eigentlich. So ein kleiner, erzwungener Aufenthalt wäre mir ganz gelegen gekommen.

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