Saris, Dirndl und Plastikblumen

7 Uhr in der Früh, 5 Grad Celsius, Neujahrstag – der hellblaue schrottreife Autobus mit dem hinduistischen Gott Ganesha am Armaturenbrett holt uns Gäste vom Hotel Jayson ab. Es rüttelt und schüttelt, im Hintergrund verschwindet Rajkot mit seinen dösenden Kühen langsam am Horizont, das dauernde Hupen wird leiser. Vom Feldweg steigen Staubwolken und schwarze Vögel auf. Eine Viertelstunde später ist unser Ziel erreicht: ein Jugendzentrum mitten in den Feldern, das in den Wintermonaten geschlossen ist.
«Ihr Lieben, nehmt euch über Weihnachten nichts vor. Kathy und Bhargav werden in Indien heiraten», stand in Tante Ilses E-Mail. Etwas später die Info: «Die dreitägige Hochzeit beginnt zu Silvester, gefeiert wird in Rajkot, der Geburtsstadt des Bräutigams.» Meine Google-Suche ergab: Rajkot liegt im Bundesstaat Gujarat im Westen Indiens, nördlich von Mumbai. Eine touristisch wenig erschlossene Gegend. Mahatma Gandhi hat hier in seiner Jugend ein paar Jahre gelebt.

Die Sterne stehen gut für die Hochzeit, aber nicht für mich als Langschläferin. In Indien bestimmen die Sterne und Planeten das Datum der Hochzeit und den Zeitpunkt der Zeremonien. Da stehen wir 22 Österreicher nun in aller Früh in der weitläufigen Anlage des Jugendzentrums mitten im Nichts. Rund herum hat es überdachte Räume, ein Gebäude mit Schlafsälen und ein paar Bungalows beim Sportplatz mit vertrocknetem Rasen. Abbröckelnde blaue Farbe und braune Blätter bilden einen Teppich am Boden der leeren Schwimmbecken, über die eine rot-gelbe Wasserrutsche ragt. Ausser uns ist niemand da.
Ich friere bis auf die Knochen in meinem luftigen Polyesterkleid. Auch die anderen zittern und frösteln. Ärger steigt in mir auf. Ein Kleid aus Seide oder Baumwolle wollte ich hier in Indien kaufen, Tante Ilse hatte ein tolles Geschäft entdeckt. «No taxi. I drive!», sagte ein Cousin des Bräutigams bestimmt und fuhr mit uns los. Gelandet sind wir im Geschäft seines Freundes, einem Paradies für Fans von Polyester und Kunstfasern. Protest sinnlos, wieder einmal an Indien gescheitert. «Good artificial wool», lachte mich die Verkäuferin beim Bezahlen an, während mein Lächeln zunehmend gefror.

«Was, da sollen heute 500 Leute eine Hochzeit feiern?», raunt eine Freundin der Braut ungläubig. Nach und nach kommen Frauen in Saris aus dem Nichts, um mit Reisigbesen den Boden der Anlage zu kehren. Ich stehe neben einem frisch gelieferten Berg von Blumenketten und schaue aufs Wasser, das gurgelnd in die Pools fliesst – darauf schwimmt ein Meer aus tanzenden Blüten. Töpfe klappern, Teller klirren. In einem leeren Raum wird eine Küche mit Gaskochern aufgebaut. Frauen schälen hockend ganze Säcke von Zwiebeln, Ingwer und Knoblauch, der Geruch von Curry zieht durch die Luft. Neben einem der Pools befestigen ein paar junge Inder Girlanden und Gestecke aus Plastikblumen auf den Balken des Hochzeitsbaldachins.
Ich staune mit knurrendem Magen, wie sich ein Zentrum in einen prächtigen Hochzeitsort verwandelt. Onkel Heimo versucht mit Nachdruck zu klären, wann es losgeht und ob wir irgendwo wenigstens heis-sen Tee bekommen könnten. Frühstück gab es im Hotel so früh noch keines. Der pensionierte Manager erreicht nichts. In seinem Gesicht spiegeln sich Ohnmacht und Ratlosigkeit. Der Vater des Bräutigams steigt gegen 10 Uhr gut gelaunt aus seinem Auto. Unsere Wartezeit von drei Stunden bleibt eines der vielen Rätsel dieses Landes.

Gestern haben die ersten Feierlichkeiten im Kreis der Familie stattgefunden, und heute findet nun der erste festliche Teil hier im Jugendzentrum statt: die Verlobung. Die indischen Frauen tragen Gewänder in allen Farben des Regenbogens. Armreifen klappern, bunte Steine auf Ringen und Ketten funkeln in der Sonne. Die Männer tragen festliche Kurtas, kragenlose, manchmal knielange, dafür weit geschnittene Hemden, die mit Ornamenten bestickt und mit Schmucksteinen dekoriert sind. Dazwischen blitzt immer wieder ein Dirndl oder ein Steireranzug auf.
Die Rituale und Zeremonien sind über den ganzen Tag verteilt. «Wann geht es weiter?», ist die Frage des Tages. Dazu bekommen wir immer wieder andere Antworten. Für Stunden passiert nichts, die meisten Gäste fahren in den Pausen wieder weg. Ich baue meine Ungeduld spazierend am Rande des Sportplatzes ab, sauge dankbar die Wärme der Nachmittagssonne auf.

Ohne Vorwarnung wütet Ganeshas Rache in meinem Bauch – ich brauche dringend ein stilles Örtchen. Mit Englisch komme ich nicht weiter. Der gequälte Gesichtsausdruck und ein paar Gesten verdeutlichen meine Notlage. Geschafft, nur Licht gibt es keines. Ich greife nach der Taschenlampe, die ich in Indien immer dabei habe. Der Raum riecht nach Mittelalter und hat kein WC. In einer Ecke des Betonbodens ist ein kleines Loch. Ich möchte am liebsten losheulen, weil mir so schlecht ist und ich so erledigt bin. Dabei geht es mir noch ganz gut. Einige von uns liegen mit Fieber weiter hinten in Bungalows und sammeln Kräfte für die nächsten Rituale.

Und irgendwann geht es dann weiter, dank Reiseapotheke auch für mich. Während ich mit den anderen Frauen unserer Familie hinter Kathy, der Braut, sitze und als Symbol des familiären Zusammenhaltes eine Hand auf ihren Arm lege, läutet aus den Falten des Priestergewandes ein Handy. «Hello?» Die Hochzeit gefriert zum Standbild, wir warten wieder, denn der Priester hat viel zu besprechen.
Die Verlobung wird nach dem Abendessen mit einem Mix der neuesten Bollywood-Soundtracks gefeiert. Alkohol ist in Gujarat verboten, aber auch mit Säften kann man feiern, als gäbe es kein Morgen. Alt und Jung tanzen und drehen sich, Saris und Dirndl wirbeln zu den schnellen Rhythmen – alles wie in einem Bollywood-Film. Die Freude am Tanz ist ansteckend, ich bin überglücklich, ein Teil dieses bunten Chaos zu sein.
Der fast märchenhafte Höhepunkt kommt am dritten Tag: die Vermählung. Sie findet im Freien unter dem Baldachin statt. An diesem Tag tragen alle Männer zu ihren Festgewändern rot-grüne Turbane mit gelb-braunen Tupfen aus meterlangem Stoff, kunstvoll um ihre Köpfe gewickelt. Sie sehen aus wie Erdbeeren. Der Bräutigam, ganz in Weiss mit rotem Schal, fährt mit einer bunten Pferdekutsche zur Hauptzeremonie. Dazu spielt schwungvoll eine Blasmusikkapelle.
Kathys Bruder und ihre Cousins tragen die Braut in einer Sänfte, die nur aus Girlanden frischer Blumen zu bestehen scheint, zum Baldachin. Sie steht im weissen Sari mit tiefrotem Schleier vor Bhargav. Ihre Hände werden ineinander gelegt. Das weisse Schultertuch des Bräutigams ist mit Kathys Sari verknotet. Dann schreitet das Paar um das heilige Feuer. Bhargav greift nach Kathys Hand, die Anspannung der letzten Tage weicht aus ihren Gesichtern, und sie werfen sich einen verschmitzten Blick zu.
Dann kommen die Hochzeitsspiele: Dem Bräutigam muss sein bestickter Schuh vom Fuss geraubt werden. Ein Neffe verliert im Gerangel einen Milchzahn. Tapfer bringt er die blutige Trophäe seiner Mutter und wirft sich sofort wieder in die Schlacht. Durch die Ablenkung kann ich den Schuh in meinem Rucksack verstecken. Als mich im Kampf um den Schuh jemand fast zu Boden ringt, überlasse ich lieber den Männern das Feld.
Die Anlage wird so richtig voll, als die 500 Gäste zum Abendempfang eintreffen. Auf zwei thronähnlichen Stühlen sitzt das Brautpaar und nimmt Glückwünsche und Geschenke entgegen. Cousin Jörg gibt dem DJ einen USB-Stick – ein wenig später tanzen wir im Dreivierteltakt auf der Bühne unter dem Applaus der indischen Gäste den Walzer «An der schönen blauen Donau» von Johann Strauss. Langsam klingt die Hochzeit aus.

Erhalte E-Mails aus…

Abonniere unsere E-Mails aus aller Welt und erhalte regelmässig Lesefutter gegen akuten Reisehunger. Diesen Service kannst du jederzeit abbestellen.

Diese Reportage teilen: