Die wundersame Burg des José Barreto

Damit ich gleich zu Beginn gewarnt habe: Reisen in die Region von Sertão in Brasilien haben ihre Tücken. Sonnenschutz und Flüssigkeitszufuhr sind wichtig – und um zur einzigartigen Burg von Zé do Monte in Sítio Novo zu gelangen, würde ich vorschlagen, die Busreise und eine damit verbundene stundenlange Wanderung bleiben zu lassen. Angenehmer ist es, in Natal ein Auto samt Fahrer für einen Tagesausflug zu buchen.
Die Reise führt über eine Distanz von 100 Kilometern nach Tangará. Am Ortsende, nach dem Imbisslokal «Dois Irmãos», zweigt rechts die Strasse in Richtung Sítio Novo ab. Noch vor diesem Ort führt ein Strässchen über einen Staudamm und steigt 300 Meter höher in die Serra, in die Bergkette. Und plötzlich leuchten im Sonnenlicht gleissend weisse Kuppeln aus der braunen Serra da Tapuia.
Wir stehen vor dem «Castello de Zé do Monte». Für die mächtige Burg mit den vielen Türmen, Kuppeln und Toren gibt es keine Logik, der wir Betrachter folgen könnten. Trotzdem ergibt sich ein eigenartiges, märchenhaftes Erscheinungsbild, mit einer Ähnlichkeit zu alten Burgen der europäischen Tradition.

Beim Eingang windet sich ein verworrenes Labyrinth von Gängen. Die sind so klaustrophobisch eng, dass sich eine Person knapp durchquetschen kann. Das wenige natürliche Licht, das durch kleine Luken fällt, reicht aus, um sich in den verschlungenen Tunneln zu orientieren. Im Inneren der Burg folgt erst ein hohes Gewölbe. Doch dann wirds chaotisch: Seltsame Korridore führen zu Räumen ohne erkennbare Funktion, Treppen erschliessen einsame Ausgucke, Böden sind oft schiefe Ebenen. Vernünftige Raumhöhen fehlen öfters, und nur noch engere Gänge führen weiter.
All dies entstand ganz offensichtlich unter Einbezug der vorgefundenen Felsen als Teil der Konstruktion. Aber es gibt auch Wohnräume, Kapellen, eine Sternwarte, Turmzimmerchen, Loggien und Terrassen. Nach einigem Suchen entdecken wir auch den schmalen Aufgang zum Hauptturm. Die Aussicht von oben ist überwältigend, hinunter in die Ebene des Sertão. Eidechsen sonnen sich auf den Mauern, und Fledermäuse flattern in ihre Höhlen in der Burg.
Der Adoptivsohn des Erbauers zeigt gerne den Besuchern von nah und fern das Bauwerk. Er ist es auch, der jene Gäste, die sich im Labyrinth der Gänge und Treppen verirren, wieder auf den Boden des Sertão zurückhilft.

Kurz vor Mittag stösst der Erbauer der Burg zu uns. Wir sehen den 83-jährigen José Antônio Barreto von seinem Haus – am Felsen nebenan – langsam und auf seinen Stock gestützt auf uns zukommen. Die 25 Jahre des Bauens an dieser mächtigen Burg in der heissen Steppe haben ihn zerfurcht, sonnenverbrannt und ausgetrocknet. Er wiegt kaum noch 50 Kilo. Mit seinen eindringlichen, dunklen, fast brennenden Augen im ausgemergelten Gesicht erinnert er an einen Heiligen aus einem alten Altarbild. Im ersten Moment scheint er in einer fernen, anderen Welt zu verweilen. Doch dann lächelt er: Er ist ganz präsent und wach – und stellt sich unseren Fragen.
Wo denn sein liebster Platz im Castello sei, wollen wir wissen. «Es ist die Plattform auf dem höchsten Turm.» Nach Einbruch der Dunkelheit – die sich hier in Äquatornähe schon um 18 Uhr einstellt – sitze er manchmal eine Stunde lang oben. In der atemlosen Stille der Wüstennacht, wo die Erde keine Ablenkung bietet, glühe das gestirnte Firmament wie mit 1000 Augen auf ihn herunter. «Dann fühle ich mich dem Himmel nahe», sagt er.
Vielleicht darum zog es alle Vordenker und Religionsstifter seit je in die Wüste: Christus, Moses und Mohammed, Buddha, Laotse und Johannes der Täufer. Visionen entstehen in den stillen Nächten des Ödlandes. Nach und nach erfahren wir die ganze Geschichte von José. Als Siebenjähriger habe er den Auftrag bekommen, ein solches Bauwerk zu erstellen, von Unserer-Lieben-Frau persönlich. José erinnert sich noch genau an alles: Namen, Daten, Orte. Es war am 13. März 1940, als ihn die Madonna beauftragte. Er war gerade dabei, Brennholz zu sammeln, im steilen Gelände der Serra do Caboclo in der Region Angicos.
Sie sei ihm über den Felsen der Serra erschienen. «Baue eine Burg», habe sie zu ihm gesagt. Mit seiner rauen Arbeiterhand zeichnet er die Kontur der Erscheinung ins Himmelsblau. Die Madonna, sagt er, habe einige Zeit zu ihm gesprochen, über die Steine, eine Burg, über materielle und geistige Ressourcen.

Er nahm die Anweisungen aufmerksam entgegen, stürzte sich daraufhin aber keineswegs gleich in Aktivitäten. Er war sich bewusst, dass er noch ein Kind war. Schon von klein auf sei sie aber da gewesen: die Faszination für Steine, Mauern, Gemächer, Türme und Zinnen.
Mit 18 musste José seinen Militärdienst leisten. Nach kurzer Zeit wurde er da schwer krank, lag sogar drei Tage und Nächte im Koma zwischen Leben und Tod. In diesen Stunden sei diese eine Vision zurückgekommen – als Traum. Wieder genesen, versuchte er während Jahrzehnten an verschiedenen Orten im Nordosten Brasiliens, seinen Auftrag in Angriff zu nehmen. Dies misslang mehrmals. José liess sich durch die Tatsachen, dass er kaum eine Ahnung von Bautechnik, Architektur oder Ingenieurwesen hatte, und weder über einen Plan, eine Finanzierung noch über eine Baubewilligung verfügte, nicht entmutigen.
Den magischen Ort, weit weg von den Städten, hoch auf der Serra da Tapuia, entdeckte er zufällig. Er wurde ihm vom damaligen Grundbesitzer zum Kauf angeboten unter der Bedingung, dass eine kleine Statue Unserer-Lieben-Frau-von-Lourdes, die sich da in einem Bildstock befand, bleiben dürfe. Das war ganz im Sinne von José. Am 13. Oktober 1984 begann er – als nun Pensionierter – die Burg zu bauen. 13 ist eine magische und bedeutungsvolle Zahl für «Zé vom Berg», wie die Bewohner der weiteren Umgebung José bald nannten. Sein Bauprojekt schien diesen höchst seltsam, wenn nicht gar verrückt.

Überaus rätselhaft scheinen auch uns all die engen und verschlungenen Gänge vor der Burg, und wir möchten wissen: «Senhor José, wozu wurden diese Tunnels vor dem Castello gemauert?» – «Sie symbolisieren unsere Wallfahrt, die Pilgerreise des Lebens im Dunkeln, all unsere Irrungen und Wirrungen, die schliesslich zum Aufstieg – und ins Licht – führen sollen», erklärt der greise Mystiker. Er drückt uns einen faustgrossen Stein in die Hand. «Wie alt ist dieser Stein – könnt ihr das ermessen?», fragt er. Für ihn sind die Steine ein Symbol des Ewigwährenden, uns in die Hand gegeben für die Arbeit mit ihnen. «Dem Kapital zu dienen, kann nicht der Sinn des Lebens sein», meint Zé, «und falsche Propheten sind jene, die den Glauben zu ihrer Goldgrube machen.»
Später, bei unserer Wegfahrt, winkt José, auf seinen Stock gestützt, mit erhobener Hand, wie ein Faktotum aus einer anderen Zeit. Und immer noch leuchten sie in strahlendem Weiss aus den braunen Felsen der Serra da Tapuia: die 84 Türme, die Vision und das Lebenswerk des Zé vom Berg.

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