Die neun Tage des Kondors

Die Runde um die Cordillera Huayhuash gilt als eine der schönsten Wanderungen der Welt. Zu Recht. Doch unterschätzen sollte man sie nicht.

Text & Fotos: Florian Sanktjohanser

«Buenos dias, Señor», säuselt jemand vor dem Zelt, der Reisewecker zeigt fünf Uhr. Ich öffne den Reissverschluss, davor lächeln drei Männer mit Thermoskannen. «Tea or coffee?» Kokatee, bitte. Gegen das Kopfweh, für die gute Laune.
Es ist Tag Zwei unserer Wanderung um die Cordillera Huayhuash. Die schönste Trekkingtour in den peruanischen Anden, hatte ich zu Hause gelesen. Und die härteste. Ich setze mich auf, schaue auf das frostgraue Ichugras und die Eisriesen, die in der Morgensonne glühen. Die Finger sind steif, der Schmerz krallt sich in den Hinterkopf. Schlafen auf 4300 Metern Höhe ist hart. Trotz der sechs Tage Akklimatisierung, trotz der luxuriösen Umstände.

Glamping ist ein grausiges Wort, und als echter Bergsteiger weist man solchen Modequatsch natürlich weit von sich. Aber die Schüssel heisses Wasser vor dem Zelt und das Frühstück im geräumigen Speisezelt sind nichts anderes als Luxus. Und sehr angenehm. Während wir kauen und blinzeln, bauen die Köche unsere Zelte ab, treiben die Arrieros ihre Tiere zusammen. 25 Esel schleppen das Gepäck, zwei Pferde und ein Sauerstoffsarg sind bereit, falls einer der 15 Gäste schlapp macht. Ein Aufwand wie für eine ernsthafte Expedition – aber nicht übertrieben, wie sich zeigen wird.

Steil, wild und einsamer als andere

Neun Tage dauert die Runde um das 30 Kilometer lange Massiv im Norden Perus, das deutsche und österreichische Bergsteiger in den 1930er-Jahren erkundeten. Früher ging sie noch ein paar Tage länger, aber seit sich die Gletscher zurückgezogen haben, kann man über den Trapecio-Pass abkürzen. Wir werden über Hochlandpampa und Mondödnis wandern, durch grüne Terrassenfelder und schulterhohe Lupinen, zwischen sandfarbenen Basalt-Orgelpfeifen und vielen, vielen Gletscherseen.

«Berge gibt es viele in Peru», sagt José Soldevila, «aber wenige sind so steil, wild und einsam wie die im Huayhuash-Gebirge.» Soldevila, 46, war auf der Schweizer Schule in Lima und spricht perfekt Deutsch. Seit 27 Jahren arbeitet er als Reiseleiter, er ist überall in Peru gewandert, geraftet, geradelt. «Pepe negro» nennen ihn die anderen Guides, wegen seines dunklen Teints.

Der schwarze Sepp mimt gerne den Lumpensammler, er geht am Ende der Karawane, schön langsam. Macht Sinn, nicht nur wegen der Höhe. Zum Hetzen ist die Huayhuash zu schade. Wir wandern über weite Hügel, durch Büschel von Ichugras und Polster der Yareta-Pflanze, die nur einen Millimeter pro Jahr wächst. Der Weg wurde wahrscheinlich schon vor den Inka ausgetreten.

Wespenfalken flattern über uns hinweg, an den Hängen grasen fette Rinder, und im grünen Tal sehen wir kreisförmige Mauern, die hiesigen Schafgatter. Vor ein paar Jahrzehnten lebten hier Herden von Lamas und Alpakas, erzählt Soldevila. Aber jetzt bevorzugen die Bauern Schafe und Rinder. Und davon halten sie offenbar einige. Manche Wiesen sind mit Kuhfladen übersät.

Die Erhabenheit der Landschaft schmälert das nicht. Und spätestens auf dem Carhuac-Pass würde selbst der abgestumpfteste Nörgler demütig schweigen. Wie Haifischzähne stechen die Eisspitzen in den blauen Himmel, vier der sechs Sechstausender ragen vor uns auf: Jirishanca, Siulá, Yerupajá Chico und Yerupajá Grande, mit 6634 Metern der zweithöchste Gipfel Perus. Der berühmteste von ihnen ist seit 2003 aber der Siulá Grande. In jenem Jahr lief «Sturz ins Leere» im Kino an, die Passionsgeschichte des Joe Simpson. Der englische Bergsteiger war in eine Gletscherspalte gestürzt und kroch mit zerschmettertem Knie heraus, bis er Tage später gerettet wurde.

Gemessen daran nimmt sich unsere Tour plötzlich mickrig aus. Schweigend wandern wir vor der grandiosen Kulisse bergab. Bald begegnen wir zwei Hirtinnen. Gloria und ihre Tante Octavia erzählen, dass sie ihre Schafe vom drei Stunden entfernten Dorf heraufgetrieben haben. Ihre Kinder leben in der Stadt, sagen sie, wo es Geschäfte, Restaurants und Jobs gibt. Hier oben ist das Leben eintönig und hart geblieben.

3000 Menschen wohnen dennoch in den Dörfern rings um das Massiv. Von Mai bis September arbeiten manche als Köche oder Eseltreiber, das restliche Jahr als Bauern wie alle anderen auch. Vom Tourismus profitieren sie vor allem über die Gebühr, die jedes Dorf von Wanderern verlangt. Dafür pflegen sie den Weg und kümmern sich um die Zeltplätze.

Die Schlafplätze sind durchwegs fantastisch gelegen, den schönsten erreichen wir an diesem Nachmittag. Über einen Gratweg wandern wir um die Laguna Carhuacocha, jenseits der wackligen Hängebrücke sind schon unsere gelben Expeditionszelte aufgebaut. Und dahinter spiegelt sich im Türkis das Amphitheater aus schwarzen Felstürmen und Gletscherzungen, die wie eingefrorene Sturzfluten leuchten. Ibisse und Blässhühner dümpeln im Wasser, ein Viscacha sonnt sich auf einem Fels, es ist warm. Also hechte ich in den See – und stolpere nach Luft schnappend sofort wieder ans Ufer.

Postkartenaussicht und einsame Passhöhen

Zum ersten Mal treffen wir hier andere Wanderer. Neben uns zeltet eine Gruppe Spanier und abseits, am Ufer, ein junges Pärchen aus den USA. Becka und Eddy Hayman, beide 25, sind in den Flitterwochen. «Wir fanden die Huayhuash auf einer Top-Ten-Liste der zehn schönsten Wanderungen weltweit», erzählt Becka. Sie trägt 16 Kilo auf dem Rücken, er 20 plus eine schwere Kamera. Die beiden löffeln zufrieden ihre mit Wasser angerührte Trockennahrung, ich fühle mich wie ein Luxustouri, ein Schummler. Abends bringe ich ihnen heimlich mein Obstdessert.

Vor allem bei Backpackern ist der Huayhuash-Circuit in den vergangenen Jahren beliebter geworden. Denn im Gegensatz zur Cordillera Blanca, die als Nationalpark geschützt ist, müssen sie hier keinen Eintritt bezahlen. Überlaufen sind die Wege aber noch lange nicht. Tagsüber sind wir fast immer allein. So auch am nächsten Morgen, als wir den See entlang zu strohgedeckten Steinhütten wandern. In den Gärtchen wachsen Kohl und Queñuales-Bäume, deren rote Rinde abblättert. Lämmer stieben auseinander, als wir das Tor öffnen. Die Bäuerin mustert uns zurückhaltend, grüsst dann aber lächelnd zurück.

Der Weg führt in ein Hochtal, über uns schimmern hellblau die Gletscher. Wir lassen die Rucksäcke liegen und kraxeln eine Moräne hinauf. Auf dem Grat öffnet sich ein fantastischer Blick auf einen See, Eisbrocken treiben im türkisen Wasser, darüber ädern feine Wasserfälle die Felswand. Aussichtsplätze wie diesen würde man auf eigene Faust nicht finden. Und auch sonst hat die Gruppentour ihre Vorteile. Auf einem Plateau warten schon unsere Köche mit Hähnchengeschnetzeltem, als Beilage gibts jenen Blick zurück über drei Seen, den wir schon am Postkartenstand in Huaraz gesehen haben. Ein Wasserfall rauscht aus dem Gletscher, ab und an donnert eine Lawine den Hang hinab.

Das Problem an Mittagspausen wie diesen ist der Anstieg danach. Kehre um Kehre schleppe ich mich den Geröllhang hinauf, alle paar Minuten bleibe ich stehen, bis das Pochen im Kopf nachlässt. Irgendwann stehe ich endlich auf dem Siulá-Pass, auf 4800 Metern. «Fast auf dem Mont Blanc», sagt ein anderer Erschöpfter. Ich mag mir nicht ausmalen, was für eine Schinderei das ohne Packesel gewesen wäre. Aber das Gute ist: Es wird jeden Tag besser.

Der nächste Tag, der nächste Anstieg, und plötzlich geht alles ganz leicht. Wir stehen auf dem Trapecio-Pass, für einige der erste 5000er in ihrem Leben. Überschwänglich umarmen sich alle – nicht das letzte Mal. Denn einige herrliche Pässe liegen noch vor uns. Der schönste ist der Cutatambo-Pass.
Als wir die letzten Meter hochstapfen, fällt der Vorhang für ein fantastisches Panorama: sandfarbene und rote Hänge, türkise Seen, und in der Mitte eine schwarze Burg mit weissen Türmen dahinter: Siulá und der Yerupajá, mittlerweile alte Bekannte. Unglaublicherweise duckt sich selbst in dieser Höhe eine Blume mit fleischigen lila Blättern und winzigen rosa Blüten in den Schotter. «Stangea henrici», ein Überlebenskünstler der Baldrian-Familie. Die Pflanze passt zu den Menschen hier.

Wandern gegen Naturzerstörung

«Welcome to Huayllapa» steht auf dem Tor, das uns am nächsten Morgen den Weg versperrt. Davor sitzt ein alter Mann mit Hut und kassiert. 45 Soles pro Person, umgerechnet 12 Euro. «Wenn sie dafür wenigstens die Toiletten auf den Zeltplätzen sauber halten würden», schimpft José Soldevila. Wohin das Geld genau fliesst, weiss er auch nicht. Huayllapa sieht genauso ärmlich aus wie viele Andendörfer. Lehmhäuser mit Wellblechdächern drängen sich auf dem Uferstreifen zwischen Fluss und Hang.

Nur wenige Dörfler können bisher vom Tourismus leben. Die meisten Kinder hier beenden nur die Grundschule, zu wenig für gut bezahlte Jobs als Guide. Das ist gefährlich. Denn in der Cordillera Huayhuash lagern Gold und Silber, Kupfer und Zink. Überall wurden Konzessionen für Minen vergeben, Strassen für schwere Maschinen gebaut. Bergbau ist der wichtigste Wirtschaftszweig Perus. Und die Bewohner der Huayhuash brauchen gute Gründe, um sich gegen die Minen und für den Wandertourismus zu entscheiden.

Am «Diablo Mudo» haben sie es getan. Die Bewohner von Pacllon wehrten sich gegen den Bau einer Mine, weil das Abwasser ihre Flüsse verseuchen würde. Die Probebohrungen wurden gestoppt, jetzt gehört der «Stumme Teufel» wieder den Bergsteigern. Sein Gipfel, 5350 Meter hoch, ist für sie der finale Höhepunkt der Tour. Aber auch für den Rest unserer Gruppe endet die Huayhuash-Runde alles andere als enttäuschend.

«El Condor pasa», ruft Soldevila, als wir den letzten Pass erklimmen. Er untertreibt, es ist nicht nur ein Kondor, sondern ein ganzer Schwarm. «Bestimmt haben sie eine tote Kuh gefressen», sagt Soldevila. Er will 15 Riesengeier gezählt haben, zwei von ihnen segeln direkt über unsere Köpfe hinweg – wir sehen das Weiss auf ihren ausgebreiteten Schwingen. Sie drehen ein paar Runden für die Fotografen, dann gleiten sie davon zur Kette der Eisgipfel, die sich ein letztes Mal in ihrer ganzen Pracht vor uns ausbreiten. Muchas gracias, Señora Huayhuash!

 

Infos und Tipps:

Anreise: Ab Lima starten täglich mehrere Busse nach Huaraz (z.B. mit Cruz del Sur, acht Stunden). Von Huaraz fährt ein Bus in vier Stunden nach Pocpa.

Reisezeit: Die Trockenzeit von Mai bis September ist optimal fürs Wandern. Allerdings wird es dann auch besonders kalt, von Mai bis Juni nachts bis zu Minus 20 Grad. Von November bis April ist Regenzeit, Gewitter und Wolkenbrüche sind vor allem von Januar bis März häufig.

Wandern: Es gibt eine Minirunde von sechs Tagen von Matacancha bis Cajatombo, die klassische Tour von 8 bis 10 Tagen und die volle Runde, die zwei Wochen dauert.

Kosten: Die Gebühren für die beiden langen Varianten betragen 240 Soles (rund 75 USD) pro Person, bei der Sechs-Tages-Tour werden 135 Soles (40 USD) fällig. In Pocpa kann man Esel für 5 USD pro Tag mieten, Eseltreiber verlangen 15 USD pro Tag. Ein Guide kostet 65 USD pro Tag.

Über den Autor

Florian Sanktjohanser steigt für seine Reportagen regelmässig auf Berge: in den Alpen, im Himalaya, in Patagonien und Afrika. Ein schöneres Gebirge als in Peru hat er noch nie gesehen.

www.florian-sanktjohanser.de

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