A Thru-Hike von Georgia bis Maine

Was passiert mit einem, der bisher ausschliesslich auf Rädern unterwegs war, und nun zum ersten Mal zu Fuss loszieht? Und dies gleich auf einem der drei grossen Fernwanderwege der USA? – Auf 3500 Kilometern wandert Marc Putzi nicht nur über Bergkämme, durch Wälder und Wiesen, sondern er begegnet auch der eigenen Seelenlandschaft und inspirierenden Lebenswegen seiner Wandergefährten.

Ausgabe: Nr. 118     Text: Marc Putzi     Fotos: Marc Putzi und Ryan Welty

Es schneit immer noch im Prättigau. Mit vollbepacktem Rucksack stapfe ich hier in den Bündner Alpen einen entlegenen Weg hoch. Es ist Ende Februar. Ich bin sozusagen auf Hauptprobe. In einem Monat mache ich mich auf, um den Appalachian Trail – kurz AT – zu wandern. Der Fernwanderweg schlängelt sich 3500 Kilometer durch das Appalachen-Gebirge an der Ostküste der USA, durch 14 Bundesstaaten, von Georgia bis Maine. Hauptsächlich will ich nun meine Füsse an die Schuhe und das Laufen gewöhnen. Denn ich bin absoluter Wanderneuling.

Vor einigen Jahren hatte ich zum ersten Mal eine Dokumentation über den AT gesehen. Zwar interessierte mich das Thema, aber ich wusste: Ich bin kein Wanderer. Bis dahin musste alles irgendwie mit Rädern zu tun haben: Rennrad, Mountainbike, Motorrad, Geländewagen – das waren meine Fortbewegungsmittel. Der überraschende Tod meines Vaters vor drei Jahren hat dann meine Sicht auf die Dinge verändert. Ich wusste, ich will meine Träume jetzt verwirklichen, denn wer weiss schon, was später sein wird. Der Plan vom Wandern nahm von da an immer konkretere Formen an.

Tag 1

Ein Werbeslogan, welchen ich beim Umsteigen am Flughafen Amsterdam sehe, beschreibt meine Lage ziemlich genau: «Unknown, here I come!» – Unbekanntes, ich komme!
Nach einem langen Flug lande ich in Atlanta. Sogleich geht es weiter nach Gainesville, knapp 50 Kilometer ausserhalb von Georgias Hauptstadt, wo mich ein Shuttle abholt, um mich ins Hiker Hostel in Dahlonega zu bringen. Es hat sich schon eine kleine Gruppe angesammelt. Die verschiedensten Typen zwängen sich in den alten Bus – mit den grossen Rucksäcken unverkennbar Wanderer. Schnell kommt man in Kontakt. Einige haben den AT im Vorjahr schon versucht und wollen es jetzt besser machen. Ein älterer Mann hat sich drei Jahre lang vorbereitet. Er zeigt mir seine Excellisten, wo er jeden Tag fein säuberlich vordokumentiert hat. Ist so etwas fürs Gelingen des Treks wirklich nötig? Ich habe nichts als meinen Rucksack und meinen Willen, keine Pläne, keine Karten.

Ich mutmasse, wer den Thru-Hike, also die Durchwanderung über die komplette Distanz, schaffen wird und wer nicht. – Einige Monate später wird sich zeigen: 100% Trefferquote! – In dem Bus mit zwölf Personen sitzen meiner Meinung nach nur zwei «Thru-Hikers»: Wildboy, ein mexikanischstämmiger Typ aus Texas, und ich.
Nach 24 Stunden auf den Beinen falle ich im Hiker Hostel todmüde ins Bett.

Angewöhnung

Schon am nächsten Morgen geht es los. Ich starte in Amicalola Falls, 13,5 Kilometer vor dem eigentlichen Startpunkt des Appalachian Trail, der sich auf dem Springer Mountain in 1148 Metern Höhe befindet. Doch der Aufstieg gehört für mich natürlicherweise dazu. Es ist ein nebliger Tag, es regnet leicht. Jetzt, Ende März, ist es noch kühl. Im Vorfeld habe ich oft gelesen, dass der AT ziemlich stark frequentiert sei, sogar das Wort «überlaufen» ist öfter gefallen. Doch es ist recht ruhig, obwohl ich immer mal wieder jemanden überhole. Bald mache ich eine erste Bekanntschaft. «ISO», Mitte 40, ein Texaner, der seit elf Jahren in Neuseeland lebt, scheint mitten in einer Midlife Crisis zu stecken. Seinen Trailnamen ISO – in search of – hat er selbst ausgewählt. Wir verstehen uns auf Anhieb, und so ergibt es sich, dass wir in den folgenden drei Wochen zwar überwiegend alleine wandern, uns aber am Abend jeweils bei den Shelters wieder treffen.

Am vierten Tag treffe ich auf «Irish», einen 68-jährigen Iren mit einer riesigen Trailerfahrung. Er hat schon alle drei grossen Fernwanderwege der USA begangen. «Der AT ist der physisch anspruchsvollste der drei Trails. Den muss ich jetzt nochmals machen. Den Pacific Crest kann ich dann auch mit 75 Jahren nochmals laufen», meint Irish zu mir gewandt. – Und ich dachte, der Pacific Crest Trail sei der strengste, weshalb ich mir als ersten Trail überhaupt den AT ausgesucht habe…
Eines Abends bekomme dann auch ich meinen Trailnamen: «Ten Speed», deklamiert ISO, analog einem Rennrad mit zehn Gängen. Weil ich ja früher Radrennen gefahren sei und auch ziemlich zügig laufe, meint er.

Die ersten Tage sind enorm eindrücklich. Es gibt so viel Neues zu sehen und zu lernen. Die Befreiung vom einengenden Schweizer System tut wahnsinnig gut. Es fühlt sich super an, teils stundenlang alleine durch die Wälder zu streifen. Es gibt Tage, da jauchze ich laut vor Glück. Das Gehen fällt mir leicht. Ich lasse es aber ruhig angehen und laufe anfangs nur etwa fünf bis sechs Stunden täglich. Am Morgen bin ich jeweils der Letzte, der aufbricht, überhole nach und nach alle und bin am späteren Nachmittag dann einer der Ersten beim nächsten Shelter.
Anfangs dreht sich vieles um praktische Fragen: Wie verpflege ich mich am besten? Zelten oder doch in einem Shelter schlafen? Wo kann ich noch etwas Gewicht einsparen? Besondere Highlights sind die sogenannte «Trail Magics». Plötzlich taucht irgendwo, meist dort, wo der Trail eine Strasse kreuzt, ein kleines mobiles Camp auf, in dem wildfremde Leute die Wanderer verpflegen: mit Hamburger, Teigwaren, Früchten und Getränken. Alles völlig unentgeltlich, einfach, weil sie Spass daran haben, jemandem eine Freude zu bereiten. Für mich als Schweizer beeindruckend, schaut zu Hause doch jeder nur, dass er selber genug bekommt.

Dann kommt der Punkt, an dem das Ungewisse, das Neue, zur Routine geworden ist. Aufstehen, essen, Zähne putzen, packen, gehen, Snacks essen, Shelter aufsuchen, Schlafmatte zum Reservieren eines Schlafplatzes aufblasen, kochen, diskutieren, schlafen.

Trailmenschen

Eines Tages überhole ich mal wieder zwei Wanderer. Am jüngeren ist irgendetwas seltsam. Ob es Vater und Sohn sind? Die beiden treffen erst spät abends beim Shelter ein, der bereits voll besetzt ist. Schlechtes Wetter zieht auf. Und was macht dieser Junge? Im Schutz von ein paar Bäumen spannt er seine mitgebrachten Abfallsäcke auf und legt sich darunter. Trocken wird er in dieser Nacht kaum bleiben.
Obwohl ich vorwiegend alleine wandere, treffe ich immer wieder auf jemanden. Am Fontana Dam, einem grossen Stausee, gibt es eine etwas grössere Hütte, die «Fontana Hilton» genannt wird, denn es gibt sogar eine Dusche! Viele der Wanderer pausieren hier, bevor es in den ersten Nationalpark auf dem Trail, den Smoky Mountains National Park, geht. Es ist schön, so viele neue Menschen kennenzulernen. Hier mache ich auch Bekanntschaft mit «Ginger-T», einem jungen Engländer, und «RockOcean», die mir gute Freunde werden. RockOcean, Mitte dreissig, hat seit zehn Jahren keinen Job. Davor war er Eisputzmaschinenfahrer bei den Tampa Bay Lightnings, einer amerikanischen Eishockeymannschaft. 2004 gewannen sie den Stanley Cup. Wie alle Teammitglieder bekam auch RockOcean einen Stanley-Cup-Ring, den er einige Jahre später auf eBay verkaufte. Der Ring brachte genug ein, um sich davon einen alten VW-Bus zu kaufen. Ab da shuttelte er damit Wanderer auf dem Pacific Crest Trail und dem Appalachian Trail. 2014 hat der Bus den Geist aufgegeben – Motorschaden. Geld zum Reparieren war keines da. Also beschloss RockOcean, selbst zu wandern.

Als ich gemütlich auf meiner Matratze liege, springt auf einmal ein Typ mit Rucksack und nur in Unterhosen gekleidet völlig überdreht in die Hütte. Er hüpft herum wie ein Affe, macht den Handstand. Dann geht mir ein Licht auf: Das ist doch der komische Junge mit den Abfallsäcken! RockOcean klärt mich auf: «Das ist ‹Butterzone›, ein 22-jähriger Obdachloser, der zuletzt in Los Angeles gelebt hat. Er kam auf den Trail mit nichts als zwei Plastiksäcken mit etwas Oatmeal (Haferflocken) darin, die Füsse bar…» Er habe ihn einmal gefragt, wieso er den Trail laufe. Darauf antwortete Butterzone: «Ich mag es einfach, zu laufen. Ich fühle mich dann wie in weicher Butter» – der Name war gegeben.
In den nächsten Wochen bin ich immer wieder mit RockOcean, Ginger-T und Butterzone unterwegs. Butterzone gewinnt immer mehr meine Anerkennung. Er hat tatsächlich nichts, keinen Cent. Er lebt – was Nahrung wie auch seine Ausrüstung betrifft – ausschliesslich von den Hikerboxen, die es in den Dörfern und Hostels gibt. Wanderer legen dort nicht mehr gebrauchte Teile ihrer Ausrüstung oder überschüssiges Essen hinein. Jene, die etwas benötigen, nehmen sich das heraus. Einmal findet Butterzone in einer Box drei Kilogramm Oatmeal. Für die nächsten Tage ist das sein ganzes Essen. Es ist klar, dass er nicht den ganzen Trail schaffen wird – je weiter nördlich man kommt, desto leerer sind die Hikerboxen. Auch gibt es immer weniger «Trail Magics». Im reichsten Bundesstaat, New York, findet sich kein einziger. Irgendwann verlieren wir uns aus den Augen. Später höre ich, dass Butterzone fast 1000 Kilometer weit gekommen ist. Respekt!
Es sind viele spezielle Personen auf dem Trail unterwegs, das macht ihn so spannend und besonders. Die Wanderung hat deshalb auch immer eine soziale Komponente.

«Bismarck», irgendwo in den Fünfzigern, ist auch so ein Trailoriginal. Seit sechs Jahren wandert er auf dem AT. Zusammen mit seiner Freundin läuft er hoch und wieder runter. Jeden Sonntag hat er einen Termin, welchen er strikt einhält: Kirchenbesuch! Frühling, Sommer, Herbst. Die Winter verbringen die beiden irgendwo in einem Hiker Hostel. Der Europäer fragt nun immer gleich: «Wie finanzierst du das?» Er habe etwas angespart und brauche hier ausserdem sehr wenig zum Leben, entgegnet ihm Bismarck dann. Stimmt. Man lernt auf dem Trail, wie man mit sehr wenig Geld auskommt und trotzdem oder gerade deshalb glücklich mit sich und seinem Leben sein kann.

Es sind Geschichten wie diese, die mich beeindrucken. Diese Sorglosigkeit, diese Zuversicht, dass es immer irgendwie weitergeht. Die Leute sind das Highlight des Trails. Man kennt nur wenige mit dem richtigen Namen, man nennt sich beim Trailnamen: «Shit-to-do», «Beowulf», «Yankee», «Texas», «Rocky Mountain High». Das verleiht eine gewisse Anonymität. Mit wem sitze ich am Lagerfeuer? Einem Banker oder einem Tellerwäscher? Einem Obdachlosen oder einem Millionär? Einem Pfarrer oder einem Mörder? Man weiss es nie, und das ist gut so.

Midtrail Crisis

Nach der Routine kommt der Alltag. Wandern wird zum Job. Die Landschaft verändert sich nicht gross. Meist verläuft der Weg durch Wald. Die Great Smoky Mountains, welche ich im Vorfeld als einen ersten Höhepunkt der Wanderung gesehen habe, enttäuschen mich. Es sind keine grossen Berge, es ist sogar weniger Wildnis als der Trailabschnitt zuvor. Ich benenne sie kurzerhand um: aus den «Great Smoky Mountains» werden die «Little Foggy Hills» – das Gelächter ist jeweils gross, wenn ich dies an den abendlichen Runden in den Hütten mit betont übertriebenem Frust verkünde.

Nach drei Wochen habe ich die ersten 500 Kilometer hinter mir. Es fühlt sich nach viel an. Wenn ich daran denke, wie weit entfernt das Ziel immer noch liegt, ist es unvorstellbar, das jemals zu schaffen. Ich gerate ins Grübeln. «Ist es wirklich das, was ich gesucht habe? Will ich wirklich nur gehen, gehen, gehen?» Stimmungsdämpfer sind auch das schlechte Wetter und das eintönige Essen.
In Hot Springs, North Carolina, bin ich kurz davor, abzubrechen.

Über den Autor

Marc Putzi ist Fahrzeugbauingenieur. Fahrzeuge aller Art und deren Konstruktion begeistern ihn auch in der Freizeit. Folglich war er bisher auf seinen Reisen vorwiegend per Motorrad oder Allradfahrzeug unterwegs. Seit dem AT erkundet er die Natur auch gerne zu Fuss und setzt sich mit dem Leben in der Wildnis auseinander.

www.pumar.ch

Wie geht die Geschichte weiter?

Der Autor kämpft nicht nur mit den Höhen und Tiefen des Trails, sondern auch mit seinem inneren Schweinehund. Am Ende ist er nicht nur weit gewandert, sondern auch weiter gereift.

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