Hopfen auf Gott

Nils Straatmann ist aufgebrochen, um den Weg Jesu nachzuwandern. Er fand eine Kultur, eine Region, die viel mehr ist als das, was wir in den Schlagzeilen erfahren.

Ausgabe: 139  Text: Nils Straatmann  Bilder: Sören Zehle

Auf der Kuppe eines karg bebauten Hügels im palästinensischen Niemandsland reckt sich ein Kirchturm in die Luft. Das Weiss des Kalksteins hebt sich strahlend gegen das Blau des Himmels ab, die Glocken läuten, bald ist Messe. Zwei Nonnen huschen über den Hof. Sie kommen aus dem «Haus der Parabeln», dem Nachbau einer antiken Hütte, die den Gleichnissen Jesu gewidmet ist. Taybeh, mit antikem Namen Ephraim, gilt als das älteste christliche Dorf Palästinas. Auf den Strassen erzählt man sich, die Ahnen seien noch vom Heiland persönlich missioniert worden.

Ein paar Hundert Meter den Hügel hinunter steht Madees Khoury in einer imposanten Industriehalle und grinst. Anfang 30, dunkle Augen, fester Händedruck. Ihr schwarzes, schulterlanges Haar so kräftig wie ihre Schultern. Neben ihr rattern Bierflaschen über ein Laufband. «Taybeh Brewing Company» steht auf dem Etikett. «Im Grunde führen wir die Arbeit Jesu fort», sagt Madees, greift eine der Flaschen und öffnet sie in einer fliessenden Bewegung. «Wir bringen die Menschen zusammen und machen sie glücklich.» Dann reicht sie mir die Flasche.

Roadtrip

Seit gut sechs Wochen war ich nun im Land. Beziehungsweise: in den Ländern. Zwei Monate lang wollte ich durch Israel und Palästina wandern. Auf den Spuren Jesu. Keine Pilgerreise, ein Roadtrip. Backpacking-Tour. Mich interessierte immer schon der Mensch Jesus, diese historische und wissenschaftlich greifbare Figur, die sich auf irgendeine Art so entwickelt hatte, dass Menschen wirklich glaubten, dieser Kerl könne der Sohn Gottes sein. Nach vier Jahren Theologiestudium war es mir im Hörsaal langweilig geworden. Ich wollte die Region erleben, wo er geboren worden sein soll, wollte spüren, was ihn beeinflusst hatte. Und dafür musste ich vor Ort sein. Von aussen betrachtet erscheinen Israel und Palästina meist nur als eine einzige Schlagzeile. Zeitungsartikel, Sequenzen in den Nachrichten. Gesichter ohne Namen, Namen ohne Geschichten. Blackbox Naher Osten. Ich hatte vor, das wahre Israel, das wahre Palästina kennenzulernen. Die Geschichten, von denen nur selten erzählt wird.

Und so fand ich mich gleich an meinem ersten Abend allein vor einer verschlissenen, blauen Metalltür in irgendeinem wilden Stadtteil in Jerusalem wieder. Taxis und Jugendliche lärmten um mich herum, und ich stand verloren da. Der Freund der Cousine des Freundes eines Freundes hatte mir die Koordinaten für diesen Ort geschickt. Denn auch wenn nichts darauf hindeutete: Hinter der Tür sollte eine Party stattfinden. Als ich sie öffnete, erkannte ich eine Art Empfangshalle, eingerichtet im Stil der 1920er-Jahre. Ein Concierge in feinem Anzug stand an einem Tresen – und als ich ihn darum bat, drückte er einen kleinen goldenen Knopf, worauf ein Bücherregal zur Seite schwang und den Blick auf eine geheime Bar freigab, das «Gatsby».

Die Wände waren mit Marmor in warmem Weiss ausgekleidet, diffuse Lichtquellen dahinter, in deren Schein alles weich und attraktiv aussah. Wilde Kräuter ragten aus Highballs und Tumblern, die Eiswürfel darin gross und rund. Im dichten Gedränge der Kneipe erzählte der Barkeeper wie nebenbei, dass er neulich einen Anruf der Armee erhalten habe. Er solle sich als Reservist bereithalten. In der letzten Zeit hätte es wieder Übergriffe gegeben. Meine Frage, wie unsicher die Lage sei, wischte er mit einem Wink beiseite. «Wir haben die beste Armee der Welt. Wenn sie uns angreifen, schlagen wir zurück», sagte er. «Aber das schützt doch nicht vor den Angriffen an sich», sagte ich beunruhigt.

Gelassen nippte der Barkeeper an seinem Cocktail: «Unsicherheit ist etwas, womit wir hier leben müssen. Am besten, du ignorierst sie. Dann geht sie irgendwann von allein.» Er lächelte mich an. «Was willst du trinken? Komm, wir machen uns eine gute Zeit. Auf alles andere haben wir keinen Einfluss.»

Gummigeschosse

Ein paar Tage später dann ein ganz anderes Bild: Ich sass in Bethlehem auf dem Dach eines rostigen Mercedes und starrte auf den Horizont. Neben mir lehnte Khader, ein gut aussehender Palästinenser mit Dreitagebart und dunklem Haar, wahrscheinlich Ende 20. Khader hatte mich auf der Strasse angesprochen.

Ich war an der Mauer entlangspaziert, die Bethlehem von drei Seiten umgab, eine «Schutzmauer», wie sie die israelische Armee bezeichnet, regelmässig von Militärposten durchzogen. Wenn es Unruhen im palästinensischen Gebiet gibt, entzündeten sie sich meist an diesen Posten. Auf dem Boden hatte ich Gummigeschosse und Glasmurmeln gefunden. Kein Spielzeug hier, sondern Munition für die Schleudern der Palästinenser. Khader war mit seinem Mercedes vorbeigefahren und hatte mich herangewinkt. Ich sähe aus wie ein Fremder, sagte er. Ob er mir die Stadt zeigen dürfe? Nachdem wir in einem altmodisch gefliesten Lokal inmitten der engen und verwinkelten Gassen Bethlehems gegessen hatten (frittiertes Schafshirn, wie ich erst nach dem Lunch erfuhr), war Khader mit mir an den Stadtrand gefahren. Auf einen Hügel, wie er erklärte, von dem aus man an guten Tagen bis zum Mittelmeer sehen konnte. Über die Mauer hinweg.

«Kannst du es erkennen?», fragte er mich, während er die Augen zusammenkniff. «Das Meer?», fragte ich. «Nein.» – «Ich auch nicht.» Er blies die Luft mit einem leisen Pfeifen aus. «Aber es ist gut, zu wissen, dass es da ist… Siehst du die Tauben da vorne?» Er deutete ein Stück den Hang hinab. «Manchmal wäre ich gerne ein Vogel. Oder ich hätte gerne euren Reisepass… Bruder, euer Pass ist der beste der Welt! Ihr könnt überall hin! Alle lieben euch und euer Geld! Eigentlich seid ihr die Vögel.»

So hatte ich die Sache noch nie gesehen. Zum ersten Mal begriff ich, was für ein Privileg das war. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. «Hast du Familie?», fragte ich nach einer Weile. «Eine Tochter. Sehr hübsch. Macht mir fast Angst. Sie wird bald neun.» – «Seid ihr religiös?» – «Du meinst wegen Hidschab und so, Verschleierung? Das muss sie selbst entscheiden. Wenn Gott will, dass sich Frauen verschleiern, warum hat er sie dann so schön gemacht?»

Ich hatte Khader bereits von den Beweggründen für meine Reise erzählt. Also fragte ich ihn unumwunden. «Was würdest du sagen, wenn Jesus heute nach Bethlehem kommen würde? Wenn du ihn hier treffen würdest?» Khader überlegte einen Moment. «Ich würde sagen: ‹Bruder, hast du Lust auf ein Bier? Lass uns was trinken! Moslem oder Christ, scheiss drauf!› – «Aber Jesus war Jude.» – «Na und? Ist doch nicht jeder Jude ein Arschloch, oder? Und auch nicht jeder Palästinenser.»

Kalkstein

Rund 150 Kilometer nördlich, auf israelischem Grund, sass ich ungefähr eine Woche später auf dem jahrhundertealten Felsboden von Nazareth. Abermillionen Füsse hatten über die Jahrtausende den Kalkstein blank poliert, ich musste eine Sonnenbrille tragen, um von der Reflektion nicht geblendet zu werden. Hier im Stadtzentrum gab es einen Brunnen, an dem der Erzengel Gabriel einst Maria von ihrer Schwangerschaft erzählt haben soll. Und ziemlich genau hier hatte Jesus wahrscheinlich auch irgendwann mal mit seinen Jüngern gesessen.

Unweit des Brunnens, ein paar ausgetretene Steinstufen empor, mitten im Labyrinth der Nazarener Hanggassen, lag das Lokal von Abu Ashraf. Rote Petunien in Blumenkästen standen an der Strasse, Cafétischchen, Klappstühle. Kupfertöpfe hingen im Innern von der Decke, Zinnkannen an den Wänden, Saiteninstrumente, Schreibmaschinen – die Höhle eines Dschinns. Im hinteren Teil des Cafés hatte Abu Ashraf eine Werkstatt eingerichtet, in der er die Antiquitäten, die seine Wände schmückten, aufbereitete. Dort fand ich ihn, einen Kerzenleuchter schrubbend.

Ein grosser, gutmütiger Mann mit leichtem Buckel, einem bescheidenen Lächeln und riesigen Ohren. «Komm näher», sagte er, ohne aufzuschauen. Um seinen Bauch spannte sich eine fleckige Schürze. «Wenn du genau hinsiehst, kannst du die Zeit in diesem Leuchter erkennen.» Er fuhr mit der Hand über die dunkelgrüne Patina des Metalls. «All die Kerben! Jede eine Erinnerung. Der Leuchter stammt noch aus der frühen Zeit der Elektrizität.»

Abu Ashraf war selbst so eine Antiquität. Tiefe Falten in der Stirn und um die Augen erzählten von Sorgen und Freude. Das Leben schien schneller als er, hatte ihn irgendwann überholt. Doch hier hinten tickten die Uhren langsamer. «Glaubst du an Gott?», fragte ich. «Natürlich», sagte er lächelnd. Und nach einer Weile: «Und ich glaube, dass er uns sehr liebt.» Er sprach immer noch, ohne mich anzublicken, Augen nur für seinen Leuchter. «Früher habe ich Gott gefürchtet. Also, so richtig gefürchtet. Ich hatte Angst, dass er mich für undankbar hielt. Ich wusste, Gott liebt mich, aber ich wusste nicht, wie ich ihm meine Liebe zeigen sollte.

Ich habe jeden Tag gebetet, war dreimal in Mekka.» – «Und jetzt?» – «Ich habe die Furcht verloren. Ich glaube, ihm ist wichtig, dass wir dankbar sind. Aber wie zeige ich Dankbarkeit? Nicht, indem ich dauernd Danke sage, oder?» Ich schüttelte den Kopf. «Nein. Sondern indem ich die Dinge wertschätze. Indem ich all die Geschenke, die mir gegeben sind, erkenne und ehre. Jeder Mensch tut böse und gute Dinge, und Gott sieht sie alle. Er liebt uns trotzdem. Darüber sollten wir glücklich sein.» Er stellte den Leuchter vor sich auf die Werkbank und säuberte die Hände in seiner Schürze. «Ich glaube, das ist alles. Gott will, dass wir glücklich sind. Besser können wir ihm nicht danken.»

Dreiländereck

Von Nazareth aus führte mich mein Weg bis zum Berg Hermon, dem nördlichsten und höchsten Punkt Israels, im Dreiländereck zwischen Syrien, dem Libanon und dem jüdischen Staat. Rund um den Hermon lebt die Religionsgemeinschaft der Drusen, eine Religion, die einst aus dem Islam hervorging und heute aufgrund ihrer Exklusivität vom Aussterben bedroht ist. Ich lernte ein paar Jungs in meinem Alter kennen, die mich abends mit in die umliegenden Hügel nahmen. Nachdem wir eine halbe Stunde lang zu siebt in einem alten Subaru über Feldwege geruckelt waren, entzündeten wir unter der Krone einer riesigen Eiche ein Lagerfeuer. Einer spielte leise auf einer Gitarre, in der Glut lagen zwei Auberginen und eine Pfanne mit Zwiebeln. Ab und an war in der Ferne ein Rumpeln zu hören. Gefechte in Syrien.

Mir fiel es schwer, meine Gefühle einzuordnen. Wie konnten wir hier so entspannt sitzen, während nur ein paar Kilometer weiter Menschen um ihr Leben kämpften? Die Drusen schienen den Lärm gar nicht zu hören. «Macht das denn nichts mit euch?», fragte ich irgendwann. «Wie könnt ihr das denn jeden Tag aushalten? Habt ihr keine Angst?» – «Hast du denn Angst?», kam es retour. Ich stutzte. Fühlte in mich hinein. «Wenn ich ehrlich bin: nein.»

Über den Autor

Nils Straatmann (32) lebt in Leipzig. Er arbeitet als Schriftsteller und Moderator. 2008 und 2013 wurde er deutscher Meister im Poetry Slam. Seine Reiseromane «Wo die Kartoffeln auf Bäumen wachsen» und «Auf Jesu Spuren» erschienen bei Piper.

www.nilsstraatmann.de

Wie geht die Geschichte weiter? Nils hat eine tiefgreifende Begegnung mit zwei Soldaten, und er lernt die einzige Braumeisterin des Nahen Ostens kennen, die ihm sogleich eine frohe Botschaft verkündet.

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