In der Wüste der Outlaws

Morgens um 8 Uhr am Busbahnhof von Potosi: Der Bus, vor dem wir seit einer halben Stunde warten, sollte jetzt abfahren. Der Typ in der Fahrerkabine schläft aber noch immer und sieht nicht aus, als würde er demnächst aufwachen. Dann die Durchsage: Der Bus fährt nicht. Alles hechten zum Ticketschalter, um ihr Geld erstattet und vielleicht bei einem anderen Unternehmen eine alternative Fahrt zu bekommen. Meine Freundin Karo und ich haben Glück und finden in einem bereits brechend vollen Bus noch zwei Plätzchen.

Sieben Stunden später sind wir in Tupiza. In den Strassen steht die Hitze. Wir sind auf knapp 3000 Metern Höhe, mitten in der Hochwüste Südboliviens. Ein wenig erinnert die Umgebung mit ihren rötlichen Massiven und Canyons an den Südwesten der USA. Wir kommen im angenehm kühlen Hotel La Torre unter.

Zum Hotel gehört – wie so oft – auch eine Touragentur, die unter anderem Fahrten nach San Vicente anbietet, den Ort, an dem angeblich die Outlaws Butch Cassidy und Sundance Kid gestellt und erschossen wurden. Nachdem die beiden Ende des 19. Jahrhunderts in den USA ihren Unterhalt mit Zug- und Banküberfällen bestritten hatten, war ihnen die Pinkerton-Detektivagentur so nah an die Fersen gekommen, dass sie beschlossen, sich nach Bolivien abzusetzen. Dort verdingten sie sich ironischerweise als Wachmänner für Lohngeldtransporte von Minenarbeitern in Potosi und anderswo, bis sie wieder zu ihrem alten Metier, dem Ausrauben von Banken, zurückkehrten. In San Vicente dann wurden sie von Soldaten gestellt und kamen bei der nachfolgenden Schiesserei ums Leben.

Oder nicht? Der fantastische Film mit Paul Newman und Robert Redford lässt das Ende in der Schwebe und mit Sicherheit ist auch nicht belegbar, dass es sich bei den beiden in einem unmarkierten Grab in San Vicente Beigesetzten tatsächlich um Butch und Sundance handelt. Doch Touren dorthin lassen sich besser verkaufen, wenn die Legende aufrechterhalten wird.

Mir genügt es zu wissen, dass wir uns in den Gegend aufhalten, in der damals auch Butch und Sundance unterwegs waren. Wir fragen in der Agentur, ob es problematisch sei, eine Nacht im nahen Cañon del Inca zu verbringen und wie man dort hinkäme. Gar kein Problem, meint die nette Mitarbeiterin, man müsse nur den breiten Trails mit den Pferdespuren folgen, die auch von den Tourguides benutzt werden.

Als wir später nochmal die Chefin der Agentur fragen, wie genau man zum Ausgangspunkt des Weges gelangt, runzelt sie die Stirn und murmelt etwas von aggressiven Hunden und dass auch schon mal jemand im Gewirr aus unmarkierten Wegen umgekommen sei. Es macht den Eindruck, als würde sie uns lieber eine Pauschaltour andrehen. Doch nach all den Touren, die wir notgedrungen in Südamerika schon buchen mussten, haben wir keine Lust, uns in einen Canyon, der irgendwo direkt hinter dem Ort beginnt, führen zu lassen.

Nach einer halbwegs klaren Beschreibung, wie wir zum Startpunkt gelangen – eine Karte konnten wir nicht auftreiben, weil es kaum welche gibt –, nehmen wir den Mikrobus zum Schwimmbad am Ortsrand. Dort geht ein Weg rechts ab, dem sollen wir folgen. Als wir aussteigen und vor einem vielversprechend aussehenden Weg stehen, fragen wir vorsichtshalber nochmal bei den Leuten nach. Nicht diesen!, bedeuten uns einige Jugendliche. Den nächsten sollten wir nehmen, der führe direkt zum Cañon del Inca.

Nach ein paar hundert Metern biegen wir ab in eine heisse, trostlos graue Felslandschaft. Kurz darauf erreichen wir einen kleinen Friedhof, Glasscherben sind auf der umgebenden Mauer eingelassen. Der Weg biegt hier so merkwürdig ab, dass wir zweifeln, ob das richtig sein kann. Trotzdem folgen wir ihm weiter. Der Nachmittag schreitet voran, doch die Hitze will nicht abnehmen. Zwischen grauen Steinhügeln schlängelt sich der Weg in die falsche Richtung, zurück zum Ort. Eine verwesende tote Ziege liegt am Rand, dann ein staubiger Absatzschuh mitten auf der Strasse. Weiter vorn kreisen Geier über einer Müllhalde. Es genügt. Richtig kann dieser Weg nicht sein.

Wir drehen um und versuchen, ein Auto anzuhalten. Wir wedeln mit den Armen, doch der Fahrer, ein kleiner dicker Mann mit einer kleinen dicken Frau auf dem Beifahrersitz, schlingert um uns herum und fährt mich fast über den Haufen. Ich kann es nicht fassen. Denkt der, dass zwei Ausländer mit Rucksäcken ihn überfallen werden? Wie kann man jemanden mitten in der Wüste einfach stehen lassen? Wir sind kurz davor, aufzugeben und in den Ort zurückzulaufen. All die zweideutigen Auskünfte, die Gleichgültigkeit der Angesprochenen, die Schwierigkeit, hier etwas auf eigene Faust zu unternehmen, lassen uns kapitulieren. Dazu die Hitze, diese elende Steinwüste. Dabei sollte es lächerlich einfach sein, in den nahen Canyon zu gelangen.

Wir gehen zurück zur Hauptstrasse und fragen noch einmal ein paar Leute. Jetzt sollen wir doch den ersten Weg nehmen – den, den wir ursprünglich im Auge hatten. Also wieder dorthin und plötzlich fühlt sich alles richtig an. Die Nachmittagssonne glitzert durch Schatten spendende Palisanderholzbäume und wir treffen auf Pferdespuren, die breit wie eine Autobahn durch die Landschaft führen. Nach einer halben Stunde ist nichts mehr vom Ort zu sehen. Wir sind umgeben von offener Weite, rotbraunen Felsformationen und meterhohen Kakteen unter einem tiefblauen Frühabendhimmel. Fliessrinnen früherer Springfluten durchziehen den Kiesboden. In die Felsen hat das Wetter Plattformen und Kanzeln erodiert. Eine 20 Meter hohe, nur 2 Meter breite freistehende Felswand bildet mit einem Durchbruch in der Mitte ein natürliches Tor: die Puerta del Diablo. Idioten vieler Nationen haben ihre Namen darauf gesprüht. Vorwiegend Paare. Etwas weiter ist der Weg gesäumt von spitzen Felsnadeln und Zacken, wie der Rückenpanzer eines Dinosauriers. Bald darauf enden die Felstürme nicht mehr spitz zulaufend, sondern mit einer schrägen Verdickung. Das Valle de los Machos. Ein Hinweisschild gibt es nicht. Ist jetzt auch nicht mehr nötig.

Langsam beginnt es zu dämmern. Schwarze, in Schatten getauchte Felsen setzen sich scharf von den flammend roten Bergen am Horizont ab, die das Licht der untergehenden Sonne einfangen. Die Wände der Schlucht rücken zusehends näher und die Naturgeräusche weichen der Stille vor dem Abendgesang der Zikaden. Wir folgen einem tiefen Flussbett bis wir ein leises Rauschen vernehmen. Im Cañon del Inca endet der Weg vor einer Mauer aus Felsen, zwischen denen ein schmales Rinnsal herabplätschert. Wir haben es geschafft.

In der Dämmerung stelle ich das Zelt auf, während um uns herum die Zikaden die Stille vertreiben. Der Kocher erhitzt bereits das Wasser für das einzige campingtaugliche Essen, das sich in Tupiza auftreiben liess. Gott sei gedankt für Ramennudeln. Mittlerweile zeigen sich die ersten Sterne zwischen den Wänden des Canyons. Bald sind es so viele, dass ich ab und zu die Augen schliessen muss, um nicht geblendet zu werden. Der Orion drängt sich wie so oft am südamerikanischen Himmel ins Blickfeld. Wir liegen auf den Matten und schauen zu, wie die Ränder der Felswände langsam in Mondlicht getaucht werden.

Am nächsten Morgen ist Karo überzeugt, dass in der Nacht ein Tier im Müll mit den trockenen Empanadas gewühlt hat. Wie gross es denn geklungen habe, frage ich. Na ja, so wie eine Maus vielleicht. Aha. Ich gehe zur Inca-Quelle und schmeisse mir kaltes Wasser ins Gesicht. Erste Vögel zwitschern zwischen den Canyonwänden. Ein Kolibri braust neben mir durch die Luft. Der Sonne entgegen verlassen wir die Schlucht, vorbei an drei Meter hohen Kakteen, von denen einige in grosser weisser Blüte stehen. Auf einer von ihnen sitzt ein kleiner gelber Vogel und pickt nach etwas im grünen Kaktusfleisch. Als ich nah herantrete, um ihn zu fotografieren, lässt er sich von mir nicht stören.

Am nächsten Tag warten wir am Bahnhof von Tupiza auf den Zug nach Villazon, wo wir die Grenze nach Argentinien überqueren wollen. Unter den Waggons auf dem Abstellgleis wächst hohes Gras. Ein Hund blinzelt in die Sonne. Die Bahnhofsansage informiert uns, dass der 9-Uhr-Zug erst 10.15 Uhr kommt. Hoffentlich.

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