Im Feenland

Vulkane, Wind und Wetter erschufen mitten in der Türkei eine bizarre Landschaft im heutigen Kappadokien. Der Legende nach war die Region der Spielplatz der Götter. Wibke Helfrich und zwei Freundinnen erkunden die einzigartige Natur aus der Luft, bei Wanderungen und wagen sich sogar unter die Erde.

Text & Bilder: Wibke Helfrich

«Allahu akbar … as-salatu chairu-mina-naum!» – Frei übersetzt heisst das, nach Allah ist gross, Gebet ist besser als Schlaf. Gequält öffne ich die Augen, im Zimmer ist es noch stockdunkel. Jeden Morgen stehe ich hier nicht mit den Vögeln, sondern mit dem Muezzin auf. Im Halbschlaf tapse ich auf unsere Hotel-Dachterrasse, die wie aus 1001 Nacht anmutet. Die dicken Perserteppiche und die aus bunten Kelims genähten Kissen laden ein, sich hinzusetzten – an einen der niedrigen Tische, auf denen frisches Obst und Tee in verzierten Kannen bereitstehen. Die Aussicht zieren Hunderte Ballone, die im Rhythmus orange und gelb flackern, sobald sie befeuert werden. Willkommen in Kappadokien!

Kappadokien befindet sich in Zentralanatolien in der Mitte der Türkei. Passt das Wetter – was angeblich an rund 200 Tagen im Jahr der Fall ist –, steigen hier jeden Morgen über hundert Ballone in den Himmel.

Die Tuffsteinlandschaft mutet an wie ein Feenland. Und sie ist ein Eldorado für Instagrammerinnen und Instagrammer: Posieren bei morgendlichen minus 6 Grad. Wer schön sein will, muss leiden, denke ich und trage lieber Wollpullover und Winterstiefel.

Ein Himmel voller Ballone

Am nächsten Morgen, kurz nach 5 Uhr, dränge ich mich mit meinen Freundinnen Christiane und Claudi und ungefähr 20 weiteren Touristen in Göreme in einen Minibus. Gemeinsam rumpeln wir über einen Feldweg durch die Dunkelheit. Da ich keine Frühaufsteherin bin, zweifle ich in diesen Momenten immer an der Sinnhaftigkeit solcher Aktionen.

Doch sobald sich das Fahrzeug eine steile Strasse auf ein Plateau hochgequält hat, sehen wir flackernde Flammen: Die ersten Ballone werden eingefeuert. Aufgeregt rutschen wir auf unseren Sitzen umher und können es kaum erwarten, endlich aussteigen zu dürfen.

Richtig spektakulär wird es, sobald der Ballon abhebt: Was sich unter uns ausbreitet, sieht aus wie die Filmkulisse für eine aussergalaktische Expedition. Bizarre Felsformationen, soweit das Auge reicht. Spargelstangen, Zipfelmützen und Riesenpilze, der Vorstellungskraft ist keine Grenze gesetzt. Beim Näherkommen entdecken wir Fenster und Türen in den Tuffsteinen. Ballonpilot Musti zeigt uns, was er kann: Mal lässt er den Ballon so tief sinken, dass wir in den Tälern unterhalb der Felsformationen ganz knapp über dem Boden schweben, mal steigt er wie ein Falke steil hinauf, und wir haben einen traumhaften Blick über die gesamte Gegend bis hin zum markanten Festungsberg von Ushisar.

Mit der aufgehenden Sonne ändert sich die Kulisse von pastellblau zu zartrosa bis hin zu goldfarben. Immer wieder muss ich mich zwingen, meine Kamera wegzulegen und den Flug einfach so zu geniessen. Er ist ohne Übertreibung der schönste, den ich je gemacht habe. Nach knapp einer Stunde landet Musti den Ballon. Und zwar direkt auf einem Trailer. Der Mann ist ein Profi, keine Frage.

Buntbemalte Höhlenkirchen

Wir wollen aber auch die verlockende Umgebung auskundschaften. Unser lustiger Führer Ali, in Berlin aufgewachsen, aber aus Kappadokien stammend, testet am Eingang des Freilichtmuseums von Göreme unsere (spärliche) Bibelfestigkeit. Für die bunt ausgemalten Höhlenkirchen können wir uns trotzdem begeistern. Um die 2000 von ihnen wurden vom 4. bis ins 6. Jahrhundert in die Felsen geschlagen, viele sind heute noch sehr gut erhalten.

Eine Sache fällt uns allerdings sofort ins Auge. Den meisten Heiligen fehlen ebendiese. Christiane fragt Ali nach dem Grund. «Zum einen liegt es daran, dass wir Moslems uns kein Abbild von den Propheten machen dürfen, deshalb wurden die Gesichter teilweise weggemeisselt. Andererseits haben viele Pilger kleine Stücke von Knien oder Kopf herausgebrochen, um sie als Andenken oder Glücksbringer gegen Krankheiten mitzunehmen.» Sinnierend schaut Claudi auf die Stirn des heiligen Onuphrius, da sie heute fiese Kopfschmerzen plagen. Angeblich würden die Heiligen, respektive ein bemaltes Stück von dessen Abbild – beispielsweise als Tee aufgebrüht –, gegen Kopfschwerzen und andere Leiden helfen. Sie entscheidet sich dann doch für eine gewöhnliche Schmerztablette.

Vor allem die Fresken der «dunklen Kirche» sind besonders gut erhalten. Was daran liegt, dass die «Karanlik Kilise» erst sehr spät entdeckt wurde und somit dem schlimmsten Vandalismus entgehen konnte. Aber auch ausserhalb des Freilichtmuseums, das seit 1985 von der UNESCO als Weltkulturerbe und Weltnaturerbe unter Schutz gestellt wurde, finden wir unzählige, in den Stein gehauene Kirchen.

Spielplatz der Götter

Vom 4. bis zum 13. Jahrhundert fand in Kappadokien ein intensives, allerdings nicht besonders friedliches klösterliches Leben statt. Die Gegend liegt direkt auf der damals stark frequentierten Seidenstrasse. Was bedeutete, dass die Leute hier ständig angegriffen wurden und Plünderungen ausgesetzt waren. Zudem wurden sie als Christen lange Zeit verfolgt. Als Folge davon hat die Gemeinschaft ihr Leben unter die Erde verlagert. Das Tuffgestein ist so weich, dass es leicht bearbeitet werden kann.

Ali möchte mit uns in die unterirdische Stadt Kaymaklı hinabsteigen. In der ganzen Region Kappadokien sind fast 40 solcher unterirdischen Städte bekannt. Tunnelartige Gänge führen uns langsam in die Tiefe. Der Weg wird immer schmaler und wir müssen gebückt gehen. Obwohl das Höhlensystem gut belüftet ist, bekommt Claudi Platzangst, als sie erkennt, dass wir uns im engen Tunnel nicht mehr umdrehen und nur noch vorwärts gehen können. An der nächsten Kreuzung wählt sie den Weg zurück nach oben. Unvorstellbar, dass einige Städte bis zu 19 Stockwerke tief sind und damals fast 60‘000 Einwohner hatten. Allein der Gedanke daran, hier im Dunkeln ohne natürliches Licht zu leben, beklemmt auch Christiane und mich.

Was sind wir glücklich, als wir wieder draussen sind und die Landschaft über der Erde bewundern können. Denn für diese fantastischen Felsen ist Kappadokien schliesslich berühmt: Hellgraue Zipfelmützen, Hüte aus Basalt, Kamine, in denen der Legende nach einst Feen hausten. Wahlweise und je nach Sonnenstand leuchten diese aus Tuff entstandenen und bizarren Gesteinsformationen weiss, rosa oder ocker. Die Formen gehen auf Vulkanausbrüche vor 20 Millionen Jahren zurück, als aus den nahe gelegenen Vulkanen Hasan Dağı im Westen und Erciyes Dağı im Osten riesige Mengen Tuffasche auf das Gebiet geschleudert wurden. Im Laufe der Erdgeschichte hat sich die Asche zu Tuffstein verfestigt. Wind und Wetter haben in Jahrtausenden aus diesem weichen Gestein eine Landschaft geformt, die einer alten Legende zufolge als Spielplatz der Götter diente.

Verheissugsvolle Täler

Endlich gehen wir wandern. Dafür sind wir eigentlich hergekommen. Liebestal, Taubental, Rosental, Weisses und Rotes Tal: Bei dieser verheissungsvollen Namensauswahl wissen wir gar nicht, für welches Tal wir uns entscheiden sollen. Letztendlich ist unsere Wahl: alle. Aber vielleicht nicht alle heute.

Präzises Kartenmaterial ist in Kappadokien Mangelware. Deshalb zeichne ich die Touren mit GPS-Daten auf, so dass sich zukünftig keiner verlaufen muss. An einem Tag begleitet uns Bilal Coskun. 1991 kam er als Wanderführer einer Gruppenreise das erste Mal nach Kappadokien. Er verliebte sich sofort in Land und Leute – und in seine zukünftige Frau. Bilal zeigt uns die Wanderung zwischen den beiden Orten Çat und Gülşehir, die er vor 20 Jahren erschlossen hat. Wir wollen wissen, warum er gerade diese etwas abgelegene Strecke ausgesucht hat. «Hier ist es viel ruhiger als im Göreme-Nationalpark. Mit etwas Glück kann man hier Schwarzstörche, Eichhörnchen und Steinadler beobachten. Ausserdem kann man hier besonders gut die verschiedenen Stufen der Erosion sehen», sagt er und bleibt bei einem überdimensionierten «Steinpilz» stehen.

In den nächsten Tagen wandern wir täglich. Trotzdem haben wir am Ende unserer Reise nicht das Gefühl, uns sattgesehen zu haben. Jeder Tag ist anders. Wir entdecken Taubenhäuser, verborgene Kirchen, kleine Cafés mit himmlisch erfrischendem Orangen- und Granatapfelsaft – nach dem wir inzwischen süchtig sind –, Kletterpassagen mit Stahlketten, in den Fels gehauene Stufen, unterirdische Häuser und Gesteinsformationen, die aussehen wie luftige Meringues. Die Sonnenuntergangs-Aussichtspunkte geben uns jeweils ein Gefühl, als wären wir in einer anderen Welt gelandet.

Am letzten Abend bleibt Christiane plötzlich stehen, als wir den Aktepe Hill hochgehen. «Alles klar?», frage ich besorgt. Meine sonst eher bodenständige Freundin dreht sich sichtlich ergriffen zu mir um: «Das ist so schön hier, und jeder Ausblick ist unfassbar.» Claudi ist wie immer auf jede Situation vorbereitet – aus ihrem Rucksack zaubert sie eine Flasche kappadokischen Rotwein, dessen Label die typischen Feenkamine zieren. Zu dritt machen wir es uns auf einem Felsrücken mit Blick über das Rosental beim Sonnenuntergang gemütlich. In verschwitzen Klamotten, aber überglücklich, prosten wir uns zu.

Über die Autorin

Wibke Helfrich (49) wurde in Afrika geboren, studierte in England und wohnt inzwischen in Heidelberg, macht Regie, Konzept und Schnitt bei der preisgekrönten Filmproduktion «filmhochdrei». Auch ihre Fotografien wurden ausgezeichnet. Ihre freie Zeit verbringt sie damit, die Welt zu entdecken. Von 1990 bis heute war sie über 100 Monate in allen Kontinenten mit dem Rucksack unterwegs. Seit über 15 Jahren schreibt sie Artikel und macht Fotos für Zeitungen und Magazine.

www.wibkestravels.net

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