Auf dem Thorsborne Trail

Einer der schönsten Weitwanderwege Australiens führt quer über die Insel Hinchinbrook im Nordosten des Kontinents. Florian Sanktjohanser schleppt Nahrungsmittel und Ausrüstung für vier Tage mit und träumt am Ende doch von Gin Tonic.

Text und Bilder: Florian Sanktjohanser  

Urängste können hartnäckig sein. Zum Beispiel, wenn man an einem trüben Fluss steht, auf einer unbewohnten Insel im tropischen Queensland, und weiss, dass man da jetzt durchwaten muss. Und dass auf dieser Insel alles kreucht und flösselt, was einen in Australien so umbringen kann. Ich ziehe die Stiefel aus, tapse zwischen glitschigen Steinen ins bauchtiefe Wasser, das Herz beschleunigt. «Keine Sorge», ruft Aline Herzog hinter mir, «die grossen Krokodile kommen nicht so weit flussaufwärts. Und die kleinen fressen dich nicht.»

Klingt beruhigend, zumindest aus ihrem Mund. Aline ist 1,83 Meter gross und hat muskulöse Waden, ihre linke Kopfhälfte hat sie geschoren. An Rennen läuft, radelt und paddelt sie 48 Stunden am Stück. Und die Wildnis Queenslands kennt die 32-Jährige aus dem Westerwald besser als die meisten Australierinnen und Australier.

Seit zwölf Jahren lebt sie hier, führt Wanderer, unterrichtet Yoga und zeigt Schulklassen, wie man sich abseilt, Bogen schiesst oder ein Floss baut. Den Thorsborne Trail geht sie schon zum fünften Mal, «er ist einer meiner Lieblingswege», sagt sie. Das passt.

Denn der 32 Kilometer lange Pfad ist alles andere als eine entschärfte Wanderautobahn. Hütten gibt es nicht, man muss Zelt, Isomatte und Schlafsack, Kocher, Geschirr und Vorräte für drei bis vier Tage mitschleppen. Bei Hochwasser watet man durch brusttiefe Flüsse, in der Sonne wird es schon im Frühling sengend heiss. Dazu kommen vier Arten giftiger Schlangen, im Meer schwimmen tödliche Boxquallen und Seewespen, Steinfische und Bullenhaie. Und in den Flussmündungen lauern bis zu 6 Meter lange Krokodile.

Eine einzige Verheissung, finden offenbar die Menschen in Australien. «Der Trail steht auf der Bucket List vieler Leute», weiss Aline. Regelmässig landet er auf Top-10-Listen der besten Wanderwege des Kontinents. Warum, ahnt man schon bei der Anfahrt.

Die Insel der Naturschützer

Die Fähre röhrt an Mangroven vorbei, dahinter steigen Hügel zu einer Kette zackiger Gipfel an, bedeckt von dichtem Urwald. Das Meer glitzert, ab und an springen Fische empor. «Auf den Seegraswiesen rund um die Nordspitze sehe ich oft Seekühe und Schildkröten», sagt John Schmidt. Der Kapitän setzt seit 18 Jahren Besucher auf die Insel über, die Sonne hat sein Gesicht gut gegerbt, zur Glatze trägt er eine Sportsonnenbrille. Er kennt den Weg durch die Untiefen des Kanals blind, immer wieder dreht er sich nach hinten und erzählt. Von James Cook, der nicht erkannte, dass Hinchinbrook eine Insel ist. Von dem amerikanischen Bomber, der 1942 in einem Sturm am Mount Straloch zerschellte, an Bord hunderttausende Dollar für die Soldaten in Papua. Vom einzigen Resort auf der Insel, das der Zyklon Yasi 2011 zerstörte und das mysteriöserweise während des Insolvenzverfahrens niederbrannte. Und von Margaret und Arthur Thorsborne.

«Margaret und Arthur kamen ab Mitte der 1960er-Jahre mit einem kleinen Boot hierher», sagt John. Wilderer schossen damals auf der Insel die geschützten Fleckenfruchttauben, die hier nisten. Die Thorsbornes wollten das Jagdverbot überwachen. «Sie gingen zu den Jägern und nahmen ihnen die Gewehre ab», erzählt Schmidt. «Das war sehr mutig in dieser Hinterwäldler-Gegend.»

Zusammen mit dem Ökopaar demonstrierte John selbst gegen die Marina von Port Hinchinbrook. «Ihr hättet sehen sollen, wie sich diese winzige Frau Bulldozern in den Weg stellte», schwärmt er. Im Oktober 2018 starb Margaret Thorsborne mit 91 Jahren. Ihr Vermächtnis bleibt das Buch, das sie mit ihrem Mann schrieb: «Hinchinbrook Island. The Land Time Forgot.»

Der Titel passt heute noch. Als wir aus den Mangroven treten, stehen wir allein auf einem kilometerlangen Strand. Kein Mensch ist zu sehen, nur Sand, Meer, Urwald und rund gewaschene Felsen. Dahinter hüllt sich Mount Bowen, 1120 Meter hoch, wie meist in Wolken. Kein Aboriginal stieg je auf den höchsten Berg der Insel, denn gemäss einer Legende lebt dort der Geist einer alten, bösen Regenmacherin.

Der härteste Teil

Wir wandern über den Strand und hinein in den trockenen Wald. Am Wegesrand stehen riesige Mao-Holzrosen, deren Rinde sich vom bleichen, glatten Stamm schält. «Sie sind so weich, dass du sie als Boxsack benutzen kannst», sagt Aline. Der Weg ist überraschend bequem, Ranger und andere Wanderer haben die Zweige bereits gelichtet. Etwas raschelt im Unterholz. «Ein Salamander», sagt Aline. Aufatmen.

Schlangen sieht sie hier oft. Einmal lag eine wadendicke Python auf dem Weg und häutete sich. Selbst als Herzog Stöcke nach ihr warf, bewegte sie sich kein Stück. «Aber Schlangen werden dich nie attackieren», erklärt sie. «Energieverschwendung.» Und sollte man tatsächlich gebissen werden, gibt es ein simples Aboriginal-Hausmittel: «Solange du dich nicht bewegst und auf den richtigen Punkt drückst, kann du lange liegen.» Ein grösseres Problem sei, dass immer mehr Leute die Wasserfälle der Insel auf Instagram sehen und unvorbereitet losziehen. «Wenn das Wetter umschlägt oder sich einer verletzt, müssen sie mit dem Helikopter gerettet werden.»

Nach einer Stunde treten wir auf einen Sattel, eine Brise bläst ins verschwitzte Hemd. Wir stellen die Rucksäcke ab und folgen der Abzweigung nach rechts. Die Stämme der Grasbäume sind verkohlt vom letzten Brand, der Weg wird steiler. Ständig kratzen Zweige über den Hut, wir müssen uns unter umgestürzten Bäumen hindurch ducken. «Das ist der härteste Teil der ganzen Tour», sagt Aline. Der Schweiss strömt, die Kehle ist trocken. Aber schon auf den Zwischenstopps ist der Ausblick grandios. Und oben auf dem Nina Peak ist er schlicht zum Niederknien – und sei es nur, um das Gemälde aus orangebraunen Felsen, satt grünen Hügeln und Felstürmen auf ein Foto zu bannen. Was natürlich nie gelingt. Denn das türkise Meer mit den dunklen Korallenflecken, der goldene Strand und die blassblauen Inseln dahinter müssten ja auch noch aufs Bild.

Würgefeigen und Dornlianen

Aline schaltet ihr Handy an, hier ist einer der drei Orte auf dem Weg mit Empfang. Und tatsächlich klingelt es. Eine Kundin fragt was wegen der Versicherung. «Gleich wieder ausschalten.»

Sie mag es, dass der Weg noch rustikal und einsam ist. Maximal 40 Gäste dürfen gleichzeitig auf ihm wandern. Buchbare Pauschaltouren gibt es bisher nicht. Als die Regierung von Queensland vor ein paar Jahren entsprechende Lizenzen an Reiseveranstalter vergeben und entlang des Weges Hütten oder Luxuszelte für besser zahlende Gäste bauen lassen wollte, kündigten Umweltschützer und Aboriginals entschlossenen Widerstand an. Mittlerweile wurden die Pläne verworfen. «Es wäre dann nicht mehr die gleiche Erfahrung», sagt Aline.

Bucht um Bucht wandern wir weiter, stapfen durch weissen Sand, gerillt von den Gezeiten, balancieren über rosa Granitfelsen und ein gigantisches Kugellager von runden Steinen. Wir haben Glück, der erste Fluss ist ausgetrocknet, die Mangrovenwurzeln liegen frei. «Normalerweise dauern die Querungen viel länger», sagt Aline.

Am Abend, als wir die Zelte auf einer Lichtung oberhalb eines Wasserfalls aufgeschlagen haben, erzählt sie von ihren Vorhaben. Sie will einmal durch ganz Tasmanien gehen und an einem 100-Stunden-Rennen mitmachen. Dagegen klingt ihre Idee, den ganzen Thorsborne Trail in einem Tag zu laufen, harmlos.

Ich bin trotzdem froh, dass wir vier Tage haben und nicht hetzen müssen. So sinkt die Gefahr, in die feinen Tentakel der Schilfpalme Calamus australis zu stolpern, die am nächsten Morgen fast unsichtbar inmitten des Wegs herabhängen. Ihre Dornen lassen sich nur mit Geduld wieder herausziehen, daher der australische Name: wait-a-while. Ich bleibe zuerst mit dem Rucksack hängen, Aline muss mich befreien. Dann rupft mir eine Dornliane den Hut vom Kopf.

Der Wald wird nun dichter und üppiger. Würgefeigen schlingen sich um Baumriesen, Palmwedel leuchten wie Seidenfächer in der Sonne. Vögel zwitschern, handgrosse Schmetterlinge flattern umher, wilde Frangipani duften nach Jasmin. Durch einen Hain von Schraubenbäumen und weiss blühenden Scheidenblättern spazieren wir zur Zoe Bay. Ein einziges Segelboot ankert in der perfekten Halbmondbucht: Kokospalmen, Dschungel und darüber wieder die grünen Gipfel, die unverhüllt an Tahiti erinnern. Leider gefällt der wundervolle Zeltplatz den Moskitos und Sandmücken ebenso gut. Also packen wir schnell die Badehose aus und eilen weiter zu den zehn Minuten entfernten Zoe Falls. Auch hier: niemand. Vielleicht weil die Wasserfälle im Vergleich zur Regenzeit nur ein mickriges Rinnsal sind. Egal, die tiefe Gumpe, überragt von Urwald, ist der Traum jedes verschwitzten Wanderers. Wir schwimmen, tauchen, prusten, füllen die Flaschen am Wasserfall auf. Dann verschlingen wir Dosenfisch, fläzen uns auf die Felsen und schauen den Dschungelbarschen im klaren Wasser und den neonblauen Odysseusfaltern in den Wipfeln zu.

Aber Aline will nochmal weiter. «Oben ist es noch schöner», sagt sie und kraxelt neben dem Wasserfall hinauf. Sie hat Recht: Uns erwartet ein Infinity-Pool mit Felsliege, warmem Wasser und Panoramablick über die Bucht. Fehlt nur noch der Gin Tonic. Nun ja, irgendwas muss diese Zivilisation ja bieten, damit man freiwillig zurückkommt.

Infos

Anreise: Von Cairns fährt man mit dem Zug bis Cardwell oder mit dem Mietwagen bis Lucinda und setzt mit der Fähre nach Hinchinbrook Island über. Von Lucinda kostet die Überfahrt zum Startpunkt im Norden und die Abholung vom Ziel im Süden 168 Australische Dollar hin und zurück, rund 112 Schweizer Franken, ab Caldwell 185 Dollar, rund 123 Schweizer Franken (Hiking the world renowned Thorsborne Trail on Hinchinbrook Island – Hinchinbrook Island Cruises).

Reisezeit: Die Wandersaison dauert von April bis Oktober. In den australischen Ferien, vor allem an Ostern, sind die Wandertickets meist ausgebucht.

Wandern: Die meisten gehen den Thorsborne Trail in vier bis fünf Tagen von Norden nach Süden. Es gibt sieben Zeltplätze entlang des Wegs. Die Genehmigung kostet 6,75 Dollar pro Tag und muss beim Nationalpark beantragt werden – am besten mindestens ein halbes Jahr vorher (Camping | Thorsborne Trail, Hinchinbrook Island National Park | Parks and forests | Department of Environment and Science, Queensland (des.qld.gov.au)

Über den Autor

Florian Sanktjohanser (41) ist in Australien auf den Inseln der Whitsundays, im Urwald Tasmaniens und auf der südseeschönen Lord Howe Island gewandert. Aber keine Tour war wilder und spektakulärer als der Thorsborne Trail.

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