Das vergessene Dreiländereck

In kriegsgeplagten Zeiten sind Gegenbeispiele wichtig. Eines davon: der Fernwanderweg «Peaks of the Balkans», der durch Albanien, Montenegro und den Kosovo führt. Autor Thomas Bauer und Fotograf Bernd Pfitzner sind ihm zehn Tage lang gefolgt.

Ausgabe: online  Text: Thomas Bauer Bilder: Bernd Pfitzner

Schon die Fahrt in das albanische Bergdorf Theth ist ein Abenteuer. Stundenlang quälen wir uns ein kurvenreiches Strässchen hinauf, ehe es endlich hinab in das enge Tal geht. Immer wieder springen Schafe vor das Auto, Kühe blockieren die Strasse. Langsam verstehe ich, weshalb das Navi für die 70 Kilometer über zwei Stunden veranschlagt. Theth ist für die meisten Wanderer der Ausgangspunkt für den Fernwanderweg «Peaks of the Balkans».

Auch wir, mein Kollege Bernd und ich, starten hier. Aus den Bars dröhnt abgestandene Musik. Mürrisch tippt der Supermarktbetreiber Preise in einen Taschenrechner. Abgemagerte Pferde durchstöbern den Müll auf der Suche nach Essbarem.

Der Weg führt zunächst ein steiniges Flussbett entlang. Immer wieder müssen wir Kleinbussen ausweichen. Erst als wir das überlaufene Dorf nicht mehr sehen, beginnt sich langsam die Schönheit des Wanderweges zu entfalten. Der «Peaks of the Balkans» bedeutet zehn Tage Wandern im Prokletije, dem höchstgelegenen Teil der Dinarischen Alpen, die sich von der Adria bis hinein nach Serbien erstrecken.

Regen und Erosion haben hier spektakuläre Bergformationen aus dem Karst geschnitten. Den Tälern sieht man bis heute an, dass sie einst von Gletschern bedeckt waren. Vor allem aber bringt der Weg zusammen, was seit je zusammengehört. Auf alten Hirtenpfaden und Handelswegen wandert man durch drei Länder, die allen Streitigkeiten zum Trotz immer schon eng miteinander verbunden waren: Albanien, Montenegro und Kosovo.

Hinauf und wieder hinunter

Schon am ersten Tag geht es unablässig hinauf, eng schmiegt sich der Weg an einen Hang. Zuweilen ist der Pfad kaum erkennbar, dann wiederum zeigt die rot-weiss-rote Markierung unmissverständlich nach oben. Nach anderthalb Stunden treffen wir einen Schotten, der bis zum Gipfel von der baldigen Unabhängigkeit seines Landes erzählt. So merke ich kaum, dass wir die Baumgrenze hinter uns lassen und bald auf nacktem Felsen unterwegs sind – bis sich das Tal von Valbona auftut.

An dieser Stelle begehe ich den Fehler, zu denken, dass der anstrengende Teil des Weges geschafft sei. Ist er nicht: Stundenlang in ein Tal abzusteigen ist anspruchsvoller und belastender für die Gelenke als der Aufstieg.

So sollte es von nun an jeden Tag sein: Auf einen Anstieg von über 1000 Höhenmetern folgt ein gigantisches Hochgefühl, anschliessend geht es hinab in ein Dorf, das manchmal nur aus drei oder vier Häusern besteht. Findige Gästehausbetreiber haben auf dem Weg nach Valbona die Abzweigung zu ihren Hütten mit den rot-weiss-roten Markierungen des Wanderwegs markiert. Wenn man schon mal da ist, so spekulieren sie, könne man doch gleich für eine Stärkung bleiben. Zu essen gibt es morgens, mittags und abends Gurken, Tomaten, Weissbrot und einen beinahe geschmacksneutralen Käse. Man gewöhnt sich daran.

Wettgemacht wird das überschaubare Angebot durch einen herzlichen Empfang und einen ansteckenden, bodenständigen Humor. Und gar nicht selten führt der selbstgebrannte Raki dazu, dass man am Ende des Tages miteinander singt, während der Gastgeber auf einem einsaitigen Instrument spielt, das in Albanien Lahutra und in Montenegro Gusle genannt wird.

Alpines Hochgefühl und verwirrende Markierungen

Schon seltsam, wenn Orte, von denen man einen Tag zuvor noch nie gehört hatte, zu einer Verheissung werden. Wann kommen wir endlich in Dobërdol an, fragen wir uns. Dieses kosovarische Dörfchen liegt auf knapp 2000 Metern über Meer zuhinterst in einem langgezogenen Tal. Im Krieg wurde es vollständig zerstört; mittlerweile weist es als einziges Dorf im Umkreis von Dutzenden Kilometern drei Gästehäuser auf. In einem davon kommen wir heute unter.

Ob es hier WLAN-Empfang gebe, will ich bei meiner Ankunft wissen und bekomme zur Antwort, dass man nicht einmal über Strom verfüge. Es gebe lediglich einen Schlafplatz im Trockenen. Eine Lektion in Genügsamkeit. Spektakuläre Wolken versammeln sich am Himmel, als wir am nächsten Morgen einen Bergrücken erklimmen. Anschliessend geht es den Grat entlang.

Die Temperatur stürzt dem Gefrierpunkt entgegen. Ein eisiger Wind umtost uns, er kriecht in alle Kleideröffnungen. Ich schlüpfe in zwei Pullover und wickle mir einen dritten um den Kopf. Unten im Tal scheint die Sonne, hier oben aber stossen die Wolken an Berghänge, anschliessend gleiten sie darüber hinweg. Oft regnen sie dabei ab.

Ich kann das Wetter nicht einschätzen. Manchmal scheint sich direkt über mir ein Gewitter zusammenzubrauen, das dann doch wieder abzieht. Dann wiederum lugt eine einzelne Wolke über eine Bergspitze. Ich bemerke sie kaum, ehe sie plötzlich ihre Kameraden zusammenruft und die Felsen unter Wasser setzt.

Schroff ist der Bergrücken, steinig, kompromisslos und wunderschön. Ein alpines Gefühl breitet sich in mir aus: Hier bin ich wirklich oberhalb der Ebenen! Doch ebenso abrupt geht es wieder hinunter in die nächste Senke. Büsche und dann Bäume halten den Wind von uns fern, die Temperatur steigt mit jedem Schritt ins Tal hinab. Ich ziehe die Pullover aus. Die Zivilisation mit ihren Annehmlichkeiten hat uns wieder.

Dabei ist Guri i Kuq, der rote Fels, ein Ort, an dem ich eigentlich gar nicht sein will. Ein drohendes Gewitter, beim Frühstück aufgezogen, setzt uns hier fest und zwingt uns einen Pausentag auf. Nachmittags fahren Dutzende Autos die Serpentinen zum abgelegenen Gästehaus hinauf. Eine Hochzeit, sagt man uns. Bis 2.30 Uhr spielt die Kapelle fetzigen Balkan-Swing, unterbrochen von Coverversionen von Bon Jovi, vorgetragen mit starkem albanischem Akzent. Keine acht Meter Luftlinie davon entfernt suche ich umsonst nach Schlaf. Bernd geht es genauso.

Kein Wunder, dass wir uns tags darauf mehrfach verlaufen. Oder liegt es an den zahlreichen Wegvarianten und Abstechern, die die Orientierung erschweren? Zuweilen verwechslen wir die rot-weiss-roten Markierungen auch mit jenen des Fernwanderwegs Via Dinarica, die aus unerfindlichen Gründen weiss-rot-weiss sind. Es gibt auch runde Markierungen, nur in Rot-Weiss. Wer hat das eigentlich festgelegt? Wollte man das Geld für weitere Farben sparen, oder war auf der Sitzung des örtlichen Wandervereins noch Farbe übrig?

Eine Wette auf die Zukunft

Dessen ungeachtet erreichen wir bald darauf das Tal von Babino Polje in Montenegro. Hier kommen wir bei einer Bauernfamilie unter. Während drei Kinder spielerisch versuchen, mir das Brot zu stehlen, erzählt mir der Vater stolz, dass er sechs Kühe und einen Stier habe. Im Sommer grase sein Vieh auf den Alpen; im Winter treibe er es in die Täler. Die Mutter spricht derweil unbeirrt montenegrinisch mit mir, obwohl ich offensichtlich kaum etwas von ihren Erklärungen verstehe. Hier gefällt es uns.

Hätten sie mehr Geld, würden sie einen Skilift bauen, bedeutet uns der Familienvater, um auch im Winter Einnahmen erzielen zu können. Die Wandersaison ist kurz; sie reicht von Juni bis September. Man muss sie nutzen: Wer kann, zimmert eine Hütte zusammen oder errichtet ein Chalet. Die grosse Hoffnung: mehr Gäste, vor allem aus Europa.

Ich stelle mir das Tal in zehn Jahren vor. Eine Asphaltstrasse würde Touristenbusse nach Babino Polje bringen. Strommasten zögen sich durch das Tal, am Anfang und Ende des Skilifts stünde ein Kiosk. Wenn es schlimm kommt, vielleicht sogar eine Bar, mit Jagertee und Après-Ski-Gedröhne, und an Weihnachten gibt Anton aus Tirol ein Konzert. Brrr! Ich schaue auf die unbebaute Wiese. Ganz hinten streicht eine Katze durchs Gras.

Natürlich will ich, dass alles so bleibt wie bisher, authentisch und unaufgeregt. Und natürlich ist das selbstsüchtig: Immerhin werde ich schon in wenigen Tagen wieder die hohen Standards in Deutschland geniessen. Die Menschen hier wollen den Fortschritt; sie wollen die Wanderer, die Snowboarderinnen und auch die Reisebusse. Und sie sind sich sicher, dass sie kommen werden. Darum bauen sie, was das Zeug hält. Es ist eine Wette auf die Zukunft; sie vertrauen der Anziehungskraft des Fernwanderwegs.

Es bleiben ihnen wenig andere Optionen. Etwas in mir wünscht ihnen den ersehnten Erfolg. Zugleich aber bin ich froh, dass ich jetzt hier bin und nicht in zehn Jahren: Die Gipfel des Balkans können noch immer entdeckt werden.

Kurz nach einem Bergsee, auf dem Weg ins Städtchen Plav begegnen wir endlich einem wilden Tier. Mit einer Mischung aus Bangen und Hoffen hatten wir auf einen Bären gehofft, einen Wolf, zumindest aber auf eine Horde Wildschweine oder eine Schlange. Stattdessen steht ein Stier auf dem Wanderweg. Als er uns sieht, senkt er die Hörner, geht einige Schritte auf uns zu. Dann beginnt er zu brüllen.

Es ist ein Laut, der mir durch Mark und Bein fährt. Ohne nachzudenken, hechte ich in den angrenzenden Wald, reisse mir an den Büschen die Beine blutig. Bernd springt hinter mir her und wir umgehen den Testosteronkoloss in einem grossen Bogen. Es sollte das einzige Mal bleiben, dass wir auf dem Wanderweg einem grossen Tier gefährlich nah kommen.

Fünf Kilometer vor Plav führt der Weg um einen Bergausläufer herum. Als wir um eine weitere Kurve biegen, sehen wir, dass die Stadt direkt unter uns liegt. Ein See, umrahmt von halbkreisförmig aufgestellten Bergen, glänzt in der Tiefe. Kaum machen wir die ersten Schritte auf das Städtchen zu, rufen die Muezzins zum Gebet.

In Hochstimmung marschieren wir in Plav ein, um uns dann hemmungslos den Freuden der Zivilisation hinzugeben: Supermärkte! Bäckereien! Cappuccino mit echter Milch!

Unser Leben ist ein schöner Kampf

Der Tag, der so symptomatisch für diesen Wanderweg werden sollte, beginnt mit einer Enttäuschung. Erst nachmittags erleben wir ihn: den schönsten Moment unserer Tour! Zwischen Blumen und Kräutern wandern wir einen Höhenrücken entlang. Vor uns erhebt sich das Bergmassiv des Prokletije so gewaltig und formvollendet wie niemals zuvor. Schroff ragen die 2500 Meter hohen Felsformationen in den Himmel. Manche Gipfel bilden beinahe spielerisch anmutende, markante Figuren, sehen aus wie ein Eichhörnchen oder ein Fuchs. Gleichzeitig zeigen sie eine massive, unleugbare Präsenz.

Sie strömen eine Kraft aus, die augenblicklich in mich eindringt. Noch während ich das Bild dieses Bergmassivs in mich hineinlasse, wird mir klar, dass es von nun an zu einer abrufbaren Erinnerung werden wird. Eine Form, ein Geräusch, ein Geruch wird sie emporholen und mir einen wertvollen Moment lang Mut machen können.

Wir mussten diesen nachmittäglichen Erinnerungsmoment hart erarbeiten. Zweieinhalb Stunden quälten wir uns am Vormittag desselben Tages im strömenden Regen bergauf, immer wieder rutschten wir auf dem glitschigen Waldboden aus.

Der Blick verändert sich bei Nässe; man sucht nicht länger nach einer schönen Aussicht, sondern nach Unterschlupfmöglichkeiten: Ein Gebüsch oder eine dicht bewachsene Stelle im Wald könnte Schutz bieten. Schon nach kurzer Zeit waren meine Schuhe und Socken durchweicht, die Füsse wurden kalt. Zu allem Überfluss hörten wir, wie im Tal unten geschossen wurde.

«Damit vertreiben wir Raubtiere, wenn sie sich unserer Herde nähern», hatte uns der Familienvater in Babino Polje erklärt. Das kann ein Bär oder ein Wolf sein. Moment mal: Wenn das stimmt und sie erfolgreich damit sind, rennt der Bär oder Wolf dann nicht den Hang hinauf, genau dorthin, wo wir gerade stehen? Die Fantasie kann seltsame Bilder erzeugen, wenn man im Regen durch den Bergwald geht und es ringsumher knallt.

In Wahrheit ist der «Peaks of the Balkans» das perfekte Abbild unseres Lebenswegs. Auch der führt schliesslich, statt geradeaus zu einem Etappenziel, steiler bergauf und bergab, als uns lieb ist. Zuweilen müssen wir uns gegen Windböen und Unwetter stemmen, mitunter setzt uns ein Regenschauer fest.

Manchmal aber erleben wir ihn: den Moment, der uns unmittelbar klarmacht, dass es sich lohnt, diesen Weg zu gehen. Einen Augenblick lang dürfen wir der Erde ins Antlitz sehen und erkennen ihre Schönheit. Nur kurz, ehe es hinab ins nächste Tal geht. Einen längeren Blick würden wir nicht aushalten. Stattdessen müssen wir uns einfach bewegen, gegen die eigene Angst und Faulheit weitergehen, immer weiter, um bald wieder einen solchen Moment erleben zu dürfen. Einen, der uns klarmacht: Unser Leben ist ein Kampf. Aber ein schöner.

Über den Autor

Thomas Bauer (46) ist Abenteurer und Reisebuchautor. Seit 25 Jahren zieht es ihn immer wieder hinaus in die Welt. Unter anderem war er per Hundeschlitten in Grönland unterwegs, hat Frankreich auf einem Postrad umrundet und im Himalaya einen Schneeleoparden beobachtet.

Über den Fotografen

Bernd Pfitzner (54) hat bei seinen (Abenteuer-)Reisen immer die Kamera dabei. So war er schon in Afrika, Mittelamerika und Asien unterwegs. Seit einer gemeinsamen Reise nach Grönland begleitet der ambitionierte Hobbyfotograf auch ab und an Thomas Bauer auf seinen Reisen und bei seinen Auftritten.

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