Auf spirituellen Pfaden in Japan

Die Spiritualität beginnt mit der Suche nach dem richtigen Weg. Im übertragenen Sinne ist das sicherlich ein guter Anfang. In der Realität hingegen mutiert sich die Suche für uns gerade zur Geduldsprobe. Seit einer geschlagenen Stunde suchen wir nun schon den richtigen Weg. Den Weg zum eigentlichen Weg, oder besser gesagt zum Startpunkt eines Weges, der eben jenes verspricht: Spiritualität.

Für entsprechende Ausstrahlung ist die Präfektur Wakayama auf der Halbinsel Kii im Osten Japans bekannt. Sie vereint heilige Berge, buddhistische und shintoistische Stätten und ein Netz aus über eintausend Jahre alten Pilgerrouten, die unter dem Sammelbegriff Kumano Kodo einzigartige Natur mit mediterranem Küstenflair verbinden. Auf einem dieser Pilgerwege, dem insgesamt einhundertzwanzig Kilometer langem Ohechi-Pfad, möchten mein Freund und ich heute wandern und erfahren, wie sie sich anfühlt, die japanische Spiritualität. Im Augenblick kann ich sie nicht einmal ansatzweise erahnen. Ich frage mich, ob wir nach der Fehlinterpretation des japanischen Kartenmaterials auch den alten Mann im Ort Tonda – den einzigen Menschen weit und breit – falsch verstanden haben. Doch dann taucht er hinter dem Dickicht eines japanischen Ahornbaums endlich auf: Der Sodo-ji Tempel, eine Stätte der Zen-Buddhisten, die in sinngemäss schlichtem Weiss und Braun anmutet wie die japanische Variante eines Fachwerkhauses. Eine Kalligraphie an der Decke verrät, dass der Tempel im 18. Jahrhundert von einem Priester in einem ziemlich desolaten Zustand vorgefunden und wieder aufgebaut wurde. Heute versprüht das menschenleere Areal eine Aura der Ruhe und Zuversicht. Eine gute Ausgangsbasis für den dreizehn Kilometer langen Marsch auf dem hier startenden Tonda-zaka-Abschnitt, dem neben Pilgern schon viele historische Persönlichkeiten gefolgt sein sollen.

Der Weg beginnt mystisch. Graue Steinstufen, überwuchert von Efeu und Gras, und graue, moosgesprenkelte Felsbrocken, die säuberlich übereinander gemauert den Tempel zur Linken verbergen, wirken erhaben und mahnend. Es soll die landschaftliche Schönheit gewesen sein, die Künstler und Schriftsteller in vergangenen Jahrhunderten dazu bewogen hat, den Weg auf sich zu nehmen – und steile Gefälle, die den Grossteil der Pilger heute davon abhalten. Aus gutem Grund?

Es dauert nicht lange und das erhabene Grau weicht grüner Exotik. Meterhoher Bambus und riesige Farne reihen sich zum erdverbundenen Wall, um dann (nach einer kurzen Unterbrechung durch eine Bergtunnel- Baustelle) mit dem saftigen Laubbaumgrün des Frühlings zu verschwimmen. Ein glasklarer Bach mit vermoostem Gestein plätschert zwischen japanischen Buchen, hin und wieder durchbrechen Blüten von Blauregen und rosafarbenen Orchideen das Grün. Gemächlich und flach führt der Weg immer tiefer in die Idylle, einsam und still, von melodischem Vogelgezwitscher einmal abgesehen. Bei frischer Luft und milder Temperatur wandelt es sich so leicht und unbeschwert, dass ich ganz vergesse, was ich eigentlich suche. Oder habe ich es schon gefunden? Das muss der Spirit sein. Der Spirit der Natur hat mich in seinen Bann gezogen.

Irgendwann beginnt sich der Wald zu verändern. Japanische Lärchen, die von einem Teppich aus Farn schnurgerade in den Himmel ragen, lassen ihre vom Licht vernachlässigten kahlen Stämme und Verästelungen hervorstechen. Ruppig und spitz, als würden sie Böses vorhersagen, rücken sie näher auf dem immer schmaler werdenden Pfad. Und dann beginnt die Steigung. Steil und steinig schlängelt sich der Weg nach oben. Die Hierarchie des Gefälles, die mit jedem kräftezehrenden Höhenmeter deutlicher wird, macht aus Lärchen imposante Könige, die auf eine permanent grösser werdende Schar stummer Untertanen hinabblicken. Die Luft ist nicht mehr frisch, sondern knapp. Die Temperatur schweisstreibend statt angenehm. Zäh und gefühlt unendlich setzt sich die Steigung fort, einzig die Aussicht auf eine Pause im bereits ausgeschilderten Teehaus hält unsere Motivation zum Weitergehen aufrecht. Schliesslich weisse und blau verzierte Scherben auf dem Waldboden, sicherlich von Teetassen und ein Indiz: Es kann nicht mehr weit sein. Kurz darauf ist die Steigung geschafft. Nadeln sind Laub gewichen, der Weg ist wieder flach. Die Strapazen werden zwar noch immer nicht mit einem Teehaus, dafür aber mit der stetig wiederkehrenden Aussicht auf die Küste der Stadt Shirahama, den Ozean und grün überspannte Berge belohnt.

Dann die Erkenntnis. Sie trifft uns unerwartet und mit Hilfe einer Informationstafel: Es gibt kein Teehaus. Nur einen Platz, an dem bis 1919 eins gestanden hat. Reiseberichte, wie die des Poeten Yokoi Kinkoku, der dem mühevollen Ohechi-Pfad im Jahr 1804 gefolgt ist, zeugen davon. Zudem soll sich 1892 der Politiker Mutsu Munemitsu von der Wildschweinjagd hier erholt haben. Heute deuten lediglich die zerbrochenen Überreste eines steinernen Mörsers darauf hin, dass hier einst Tee getrunken wurde.

Den ungläubigen Blick auf die Informationstafel gerichtet, frage ich mich, wie das Teehaus wohl ausgesehen hat. Ich male mir dunkles Holz und eine Veranda aus, die zwischen dem Astwerk der Bäume schwebt und den Blick freigibt auf die grünen Berge und den weiten Ozean. Sehe den Poeten und den Wildschweinjäger, wie sie dasitzen vor ihrem dampfenden Tee, sich Erholung gönnen vom Kraftakt der bewältigten Strecke. Ich werde neidisch und frage mich, was mir das jetzt, einhundert Jahre zu spät, bringt: Ein Teehaus im Geiste. Oder ist das etwa japanische Spiritualität?

Am Ende des Tages ist es ein grosses ‹Was wäre wenn?›. Die Grundlage der Frage, der Wandel der Zeit, hat im Verlauf der letzten acht Kilometer unablässig deutlich gemacht, wie sehr sich seine Vor- und Nachteile bedingen. So muss heute niemand mehr diesen Weg auf sich nehmen. Wer bloss von A nach B kommen möchte, nimmt das Auto. Zu spirituellen Stätten, zum Beispiel denen in Nachisan, den Bus. Für die Wenigen, die sich freiwillig auf den Tonda-zaka-Pfad begeben, lohnt sich kein Teehaus. Dabei wäre es im Hinblick auf die geteerten Abschnitte von der anderen Seite her sicherlich leichter zu erreichen als noch Jahrhunderte zuvor. Das wiederum tut der Ursprünglichkeit des Weges zwar einen Abbruch, dafür ist es körperschonender. Auch Informationstafeln, als Beweis der fortschrittlichen Kennzeichnung, erweisen sich als nützlich. Die Gefahr, bedeutsame Monumente wie den verbliebenen Siddham-Steinturm (als Repräsentant Buddhas) zu übersehen (weil er so klein ist), wird minimiert.

Doch nicht immer erweist sich der Fortschritt als dienlich. Was nützt eine Bushaltestelle am Ende des Weges, wenn kein Bus kommt? Oder das Angebot einer Fährüberfahrt, wenn der Fluss Hiki kaum Wasser hat? Dann hilft nur die altbewährte Frage nach dem Weg, die in unserem Fall ein älteres Ehepaar dazu anregt, uns mit dem Auto zum nächsten Bahnhof zu fahren. Widerrede zwecklos. Die Erkenntnis daraus? Es bringt immer etwas. Sei es die Erfahrung der Gastfreundschaft oder das nächste japanische Erlebnis.

Entspannen im Onsen – das ist nichts für Gehemmte. Nach der anstrengenden Wanderung allerdings ist die Aussicht auf ein Bad in einer heissen Quelle (Onsen) verlockend genug, um die Hemmungen über Bord und die Kleider (alle) in einen Korb zu werfen. Die heissen Quellen der Shirahama Onsen zählen zu den drei ältesten Quellen Japans. Die Heilkraft und den Erholungsfaktor vulkanischer Mineralien wussten schon die Menschen vor über tausend Jahren zu schätzen und auch der ein oder andere Kaiser soll sich samt Gefolgschaft damit die Muskeln gelockert haben. So verwundert es kaum, dass Shirahama heute ein beliebter Erholungsort bei Japanern ist, der obendrein mit einem weissen Sandstrand und der Verschwesterung mit Waikiki Beach auf Hawaii auftrumpfen kann.

Die Auswahl an Onsen ist gross. Es gibt Outdoor-Onsen, Indoor-Onsen, öffentliche Onsen, hoteleigene Onsen, Ganzkörper-Onsen und Fuss-Onsen, in denen sich die Besucher rot und weich baden können. Ein Resultat des Wandels auch hier: Im Gegensatz zu früher baden Männer und Frauen meist getrennt. Meine Premiere erlebe ich im Senjo-No-Yu-Onsen. Hochgelegen auf einem Hügel verspricht es Badevergnügen an der frischen Luft und Aussicht auf den Pazifik. Auf meinem Weg zur Enthemmung habe ich Glück. Im Umkleideraum der Frauen, erkennbar am roten Vorhang, ist nur ein Korb belegt. Die Besitzerin des Inhalts verlässt den warmen Wasch- und Baderaum, als ich ihn betrete. Allein und ungeniert kann ich mich so dem Waschritual widmen, das grosses Fettnäpfchenpotenzial und wenig Ausweichmöglichkeiten vor der nackten Wahrheit bietet.

Penibel abgeschrubbt und noch etwas steif von der niedrigen Sitzhöhe des Plastikhöckerchens, von dem aus ich das Ritual vollzogen habe, gleite ich langsam in das steinverkleidete Outdoorbecken. Gefühlte 45 Grad überziehen meine Haut, Stück für Stück, bis ich sitze. Entspannt blicke ich auf grünes Buschwerk als Sichtschutz. Und wenn ich nur einen Meter grösser wäre, sähe ich das Meer.

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