Auf Skiern durch die Finnmarksvidda
Jolanda Linschooten macht keine 08/15-Ferien. Längst hat sie das Abenteuer zum Beruf gemacht. Am liebsten ist sie draussen unterwegs, wovon sie auch Minustemperaturen nicht abhalten. Getrieben von einer tiefen Faszination fürs Polarlicht, bricht sie in einer dunklen Winternacht auf, um mehr über seinen Zauber zu erfahren.
Ausgabe: Nr. 128 Text & Fotos: Jolanda Linschooten
«Wer das Nordlicht wirklich kennenlernen möchte, der muss die Nacht zum Tag machen», sagte mir Dr. Magnar Gullikstad Johsen, als ich auf der Suche nach Fakten über das Nordlicht war. Ich besuchte den norwegischen Wissenschaftler in seinem engen Büro an der Universität Tromsø, Fakultät Physik.
«Die meisten Wissenschaftler», seufzte der bärtige Professor, «brüten in ihren Kämmerchen über Satellitendaten und Messwerten, berechnen, betrachten und bewerten, ohne je nach draussen zu schauen.» Ich nickte, machte fleissig Notizen, und musste mir eingestehen, dass ich ja genau das auch machte: Ich las jedes Buch und alle möglichen Internetseiten über das Phänomen und träumte schon seit Jahren von den polaren Lichterscheinungen. Aber ich konnte nicht behaupten, nächtelang unter freiem Himmel zugebracht zu haben. Was der Professor mit seinen Worten in Bewegung setzte, ahnte er wohl nicht.
Ein Jahr später
Auf Skiern fahre ich in die Polarnacht hinein. Hinter mir her ziehe ich einen Schlitten, beladen mit Ausrüstung und Essen für knapp drei Wochen. Über der Schlucht des Reisa-Flusses hängt eine blaurosa Dämmerung. Hier, 600 Kilometer nördlich des Polarkreises, blinzelt die Sonne Anfang Februar gegen neun Uhr morgens über den Horizont, um kurz nach zwei Uhr nachmittags schon wieder hinter der Erdkrümmung zu verschwinden. Die übrigen neunzehn Stunden herrscht Dunkelheit.
Im bescheidenen Lichtkegel meiner Stirnlampe wirkt das vor mir liegende Flusstal viel tiefer, als es tatsächlich ist. Aus meinem Herzen steigt ein tiefer Seufzer. Das ist es, was ich wollte, also los. Ich denke an den verstorbenen Physiker Professor Kristian Birkeland (1867–1917), der als einer der ersten den Zusammenhang zwischen der Sonne und dem Nordlicht entdeckte. Aus wissenschaftlicher Sicht, ist das von immenser Bedeutung. Durch diese Erkenntnis nahm man das Phänomen auch ausserhalb der Welt der Mythen wahr. Tanzende Seelen der Verstorbenen, mürrische Götter oder ein funkelndes Fussballspiel mit einem Walrossschädel – Interpretationen von Naturvölkern gibt es viele. Nachvollziehbarerweise war der Nachthimmel schon immer eine Projektionsfläche für Märchen und Mythen.
Erleuchtet
40 Kilogramm hinter mir herziehend, denke ich unvermittelt an die Nachttiere, und ich schalte meine Stirnlampe aus. Ich will sie nicht stören. Das menschliche Auge ist nicht besonders geeignet, um in der Nacht zu sehen. Es nimmt nur einen begrenzten Teil des Lichtspektrums wahr, ohne Farbe und Details. Mit der alles verschluckenden Dunkelheit kommt die Ungewissheit. Ist das Eis überall stark genug? Gibt es eine sichere Route in die Berge hinauf, und werde ich überhaupt einen Funken Nordlicht sehen?
Auf beiden Seiten des Tals erheben sich hohe Felswände. Dazwischen wölbt sich der Himmel, an dem unermesslich viele Sterne funkeln. Kein einziger Windhauch ist zu spüren, das kleine Thermometer an meinem Hosenbund zeigt minus 21 Grad. Trotzdem fühlt sich mein Körper angenehm warm an.
Während mein Kopf immer leerer wird und ich entspannt mit den Skiern über den gefrorenen Reisa-Fluss gleite, verändert sich der Himmel plötzlich. Aus dem Nichts und in absoluter Stille breiten sich fluoreszierende, grüne Lichtstreifen von Norden nach Süden aus. Auf einmal ist der ganze Himmel grün. Marit Anne Hauans Ermahnung kommt mir in den Sinn. Die Direktorin des Universitätsmuseums in Tromsø erzählte mir, dass sie als Kind das Nordlicht nie direkt anschauen durfte. «Auf jeden Fall war es für unsere Eltern eine bequeme Art, dafür zu sorgen, dass wir Kinder endlich hereinkamen», grinste sie, wurde dann aber ernst, als sie erzählte, dass sich die Mythen von Kindern, die von einem grünen Lichtstrahl getroffen wurden und abstürzten, oder von schwangeren Frauen, die eine Fehlgeburt hatten, hartnäckig hielten. «Ob es wahr ist oder nicht: Das Naturschauspiel ist überwältigend. Du solltest besser Respekt zeigen für das, was grösser ist als du.»
Jetzt verstehe ich Marit Anne, und doch kann ich mir den Anblick nicht verwehren. Ein paar Minuten lang sehe ich einen riesigen Schmetterling, der seine Zunge in einer magischen Windung entlang der Sterne rollt. So rasch, wie es kam, verschwindet das Polarlicht wieder. Mein ganzer Körper zittert, nicht wegen der Kälte.
Durch die Nacht
Inzwischen bin ich eine Woche unterwegs. Mein Leben hat sich in den vergangenen Tagen und 100 Kilometern um 180 Grad gedreht: Die Tage sind zu Nächten geworden, und die Nächte erwiesen sich als besondere Tage. Ich ziehe meine Ausrüstung über die Reisa, stetig Richtung Finnmarksvidda, des grössten Hochplateaus Norwegens. Zur Erforschung des Nordlichts liess Birkeland 1899 die erste Nordlichtwarte der Welt bauen. Er rechnete aus, dass bei 69 Grad nördlicher Breite der geeignetste Ort dazu sei. Das Observatorium steht noch heute, auf dem Berg Haldde in der Nähe von Alta. Dorthin bin ich unterwegs. Noch mehr als 150 Kilometer Schneelandschaft sind zu bewältigen.
Träume verwirklichen sich nicht von alleine, das wird mir am zehnten Tag wieder einmal klar. Nach einer unruhigen Nacht löffle ich meinen Morgenbrei und ahne schon, dass dies kein Traumtag werden wird. Eben wehte noch ein normaler Wind, nun ist es schon ein Sturm. Es klappert, heult und klatscht um mein Zelt herum. Bei diesem Wetter macht es keinen Sinn, weiterzulaufen. Aber Hierbleiben ist genauso ein Problem. Also setze ich meine Schneebrille auf, schnappe mir die Schaufel, trete ins Freie und suche eine geeignete Stelle, um eine Schneehöhle zu graben. Ich fürchte, dass mein Zelt von diesem Sturm in Stücke gerissen werden könnte. Vier Stunden schaufle ich, dann ist die Höhle gross genug, dass ich und meine Ausrüstung hineinpassen. Schneeböen brausen an der Öffnung vorbei, der Wind heult. Aber im Innern ist es fast still – und unendlich weiss.
Geschichtsträchtig
Nach sechzehn Nächten erreiche ich den Fuss des Berges Haldde. Der Wind weht mir um die Ohren, die Aussicht ist miserabel, und vor dem Aufstieg graut mir. Aber ich muss da hinauf. Rauf zu Birkelands Observatorium auf 900 Metern Höhe. Den Schlüssel, den ich zuvor noch in Alta geholt habe, steckt sicher in meiner Tasche. Nach sieben ermüdenden Stunden durch tiefen Schnee erreiche ich das Ziel. In Bronze gegossen und mit Schnee bedeckt, bewacht Birkelands Büste das Observatorium.
Bei Windstärke sieben kämpfe ich eine Viertelstunde mit der Tür, bis sie sich öffnen lässt. Bevor ich meinen «heiligen Gral» betrete, lege ich die Hand auf Birkelands metallenen Kopf. «Hey Kristian», rufe ich gegen den Wind an, «du warst für den Nobelpreis für Physik nominiert und bist jetzt sogar auf der norwegischen 200-Kronen-Note!» Birkeland starrt kalt über die verschneiten Küstenberge. Er schweigt. Es ging ihm nie um Ruhm. Er war ein Wesen der Nacht, das unermüdlich das Geheimnis des nächtlichen Lichts ergründete.
Unter Samen
Neun Monate später reise ich im November erneut nach Nordnorwegen. Diesmal, um mich unter die Samen zu mischen. Ich will mit ihnen zusammenleben, wenn auch nur für ein paar Wochen. Die Samen sind die Ureinwohner von Lappland, früher ein grenzenloses Gebiet, das jetzt über Norwegen, Schweden, Russland und Finnland verteilt ist. 40’000 der rund 70’000 Samen leben in der norwegischen Finnmark.
Ende November beginnt die Zeit der Polarnacht, wenn die Sonne zwei Monate lang nicht über den Horizont steigt. Die Vermutung, dass es hier auch tagsüber stockdunkel ist, stimmt nicht. Jedenfalls nicht zwischen zehn und zwei Uhr, dann herrscht eine pastellfarbene Dämmerung. Der Rest des Tages ist in der Tat dunkel, aber das Mondlicht, der glitzernde Schnee und das Nordlicht bieten mir bei der Anreise eine surrealistische Fahrt über die leere, eisbedeckte Strasse. Mit einem Mietwagen fahre ich in drei faszinierenden Stunden vom Flughafen Alta nach Kautokeino – zu der Siedlung die auf Samisch «zentral auf halbem Weg» bedeutet. Diese Ansammlung von Häusern oberhalb eines gefrorenen Flusses war bis vor einem halben Jahrhundert das Zentrum der Nomadenkultur.
Über die Autorin
Die Niederländerin Jolanda Linschooten ist eine der erfolgreichsten Ultratrail-Läuferinnen, professionelle Fotografin, Filmemacherin und Autorin. Freiberuflich arbeitet sie auch für National Geographic. Bei ihren teils extremen Outdoor-Abenteuern ist es ihr immer wichtig, mit eigener Kraft in der Natur unterwegs zu sein.
Wie geht die Geschichte weiter?
Mit welchen Anstrengungen und Freuden wird die Abenteurerin bei ihrer Skiweitwanderung durch die Finnmarksvidda noch konfrontiert? Als sie sich auf der zweiten Reise wie frühere Generationen der Samen in ein Lavvu einquartieren will, machen sich die Einheimischen Sorgen. Aber Jolanda will ganz eintauchen in die Traditionen – und lernen, im Dunkeln zu sehen. Kommt sie diesem Geheimnis auf die Spur?