Verbotene Freiheiten

Eine Reise in Irans Wohnzimmer zeigt die enormen Gegensätze zwischen öffentlichem und privatem Leben. Zu Hause passiert alles, was draussen verboten ist. Couchsurfer und Bestsellerautor Stephan Orth erlebt dort eine Welt, in der die strengen Regeln des Mullah-Regimes keine Bedeutung mehr haben.

Ausgabe: 131  Text und Bilder: Stephan Orth

 

Saeed steigt aus dem Auto, blickt nach rechts und links wie ein Einbrecher und schliesst die Stahltür seiner Wohnung im Südwesten von Shiraz auf. «Sei leise und sprich kein Englisch auf der Strasse, sonst hören dich die Nachbarn», flüstert er. «Es ist verboten, Ausländer bei sich aufzunehmen.» Dann winkt er, schnell reinzukommen. Ich schnappe mir meinen Rucksack und haste durch den Eingang.

Saeed ist 20 Jahre alt, Grafikdesignstudent, hat verwuschelte Haare und markante Augenbrauen. Als er bei couchsurfing.com einen Beitrag von mir in einem Diskussionsforum sah, hat er mich angeschrieben, ob ich auf meiner Reise nach Shiraz kommen und bei ihm wohnen wolle.

Zwei Monate bin ich in dem Land unterwegs, übernachte als Couchsurfer bei Einheimischen und teile mit ihnen den Alltag. Dabei lerne ich mehr über die Menschen und ihr Land, als wenn ich zehn Jahre in Fachbüchern lesen würde. Die Idee dabei: Nicht zu viel planen, sondern mich einfach auf das einlassen, was die Einheimischen mit mir vorhaben. Und keine Listen von Sehenswürdigkeiten abhaken, denn Menschen sind sehenswürdiger als Moscheen und Museen.

Razzia

Offiziell ist Couchsurfing im Iran verboten, die Website ist seit 2017 blockiert und nur mit technischen Tricks zugänglich. Der Staat befürchtet, dass durch das Couchsurfing die in Hotels notwendige Registrierung des Reisepasses umgangen werden kann und auf diese Weise Spione (genauer: alle diejenigen, die unter die lokale Definition von «Spion» fallen) unerkannt durch das Land reisen könnten. Im Frühjahr 2018 fand eine Art Razzia statt: Dutzende Couchsurfing-Mitglieder wurden auf die Polizeiwache beordert und eingeschüchtert, Hunderte bekamen E-Mails von den Behörden, die vor ernsten Konsequenzen warnten, wenn sie nicht sofort aufhörten, ausländische Gäste bei sich unterzubringen.

Obwohl Ärger mit der Staatsgewalt droht, gibt es im Iran inzwischen mehr als 170 000 Mitglieder bei couchsurfing.com, jeden Tag werden es mehr. Das hat vor allem zwei Gründe: eine grosse Routine im Brechen von Regeln und ein enormes Interesse am Austausch mit Reisenden aus dem Westen. Dazu kommt eine Gastfreundlichkeit, deren weltweite Einzig-
artigkeit nur angezweifelt wird von Menschen, die genau eine Sache gemeinsam haben: Sie waren noch nie im Iran.

Ich selbst habe mich in dieses Land verliebt und ein Buch geschrieben, in dem ich das zum Ausdruck bringe und intensiv für einen Besuch in der islamischen Republik werbe. Weil es aber auch politische Themen, Berichte über Gesetzesbrüche und Gespräche mit Regimegegnern enthält, stehe ich seit der Veröffentlichung auf der schwarzen Liste und darf nicht mehr einreisen.
Dabei gäbe es gerade jetzt, in Zeiten der politischen Krise, noch so viel mehr darüber zu erzählen, was die Menschen in diesem Land bewegt. Einem Land, von dem man medial hauptsächlich die Stimmen seiner diktatorischen Regierung hört. Gäbe es eine freie Abstimmung, würde diese Regierung mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit von der Mehrheit im Iran abgelehnt.

Von der Härte und der diplomatischen Planlosigkeit der USA profitieren die konservativen Religionsführer. Denen passt ein Erzfeind, der sich unfair und feindselig verhält, viel besser in den ideologischen Kram als einer wie Obama, der jedes Jahr zum Nowruz-Fest ein respektvolles Grussvideo produzierte.

Verbrannte Flaggen

Saeed weiss, dass viele Missverständnisse über sein Land vorliegen. «Die Leute denken, im Iran warte an jeder Ecke ein Terrorist, und ständig verbrennten Demonstranten USA- und Israel-Flaggen», sagt er. «So ein Quatsch.» Er macht in einem Samowar schwarzen Tee. Eine enge Küchenzelle trennt die beiden Zimmer der schlauchartigen Wohnung.

Auf Regalen liegen Muscheln aus dem Persischen Golf, ein Zauberwürfel, Jonglierbälle und eine beträchtliche Sammlung ausländischer Geldstücke: Cents, Lire, Rupien, Pesos. Stolz zeigt er mir eine silberne Schekel-Münze, die ihm ein Besucher schenkte, der ein paar Jahre vorher Israel besucht hatte. Eine Rarität, das Glanzstück seiner Sammlung, weil kein Israeli jemals in den Iran einreisen darf.

Das Glas in der Haustür ist mit Alufolie blickdicht abgeklebt, nach hinten raus hat die Wohnung ein Fenster, das mit Pappe abgedeckt ist, und eine Tür zu einem Innenhof, verborgen hinter einem dunkelroten Vorhang. Eine typische iranische Wohnung, gesichert vor neugierigen Blicken. Von aussen kann niemand erspähen, was drinnen geschieht.

«Ich erwarte jeden Tag, dass die Polizei vor meiner Tür steht wegen der ganzen Besucher», sagt Saeed. «Ich bin darauf vorbereitet. Aber bis dahin werde ich so viele Gäste haben, wie ich will.» Allein in den letzten drei Monaten hatte er 45 Besucher, häufig organisiert er zudem Treffen und Stadtrundgänge: zu Highlights wie der Nasir-ol-Molk-Moschee, zur Grabanlage des Dichters Hafiz oder in den Eram-Garten, wo sich die junge Hipster-Szene zum Schaulaufen zwischen Orangenbäumen und Palmen trifft.

Göttliches Wunder

Wenn in Shiraz morgens um acht Uhr die Sonne durch die bunten Fenster der Nasir-ol-Molk-Moschee scheint, erleuchten alle Farben des Regenbogens die Perserteppiche und Säulen im Innenraum. Wie ein göttliches Wunder, von dem der arglos draussen Vorbeigehende keine Vorstellung hat. Ein Sinnbild für den Iran: Die Aussenwelt zeigt nur einen winzigen Ausschnitt der Realität. Erst wer sich in die Gebäude, in die Wohnungen begibt, erlebt sämtliche Facetten des Lebens, das hier grösseren Zwängen unterworfen ist als anderswo, aber immer wieder Wege findet, verbotene Freiheiten im Geheimen auszuleben. Ein Paradox – eines von vielen in der islamischen Republik: Am freiesten sind die Menschen, wenn sie von vier Mauern umgeben sind.

Zwei Drittel der Iraner sind unter 35 Jahren, und ich treffe hauptsächlich Menschen in dieser Altersgruppe. Keinen Querschnitt der Gesellschaft, sondern hauptsächlich diejenigen, die höher gebildet sind und zum Mittelstand gehören. Immer wieder erlebe ich kleine und gros­se Gesetzesbrüche, Mikrorebellion im Wohnzimmer als Überlebensstrategie, um vor lauter Einschränkungen nicht verrückt zu werden.

Über den Autor

Stephan Orth (39) ist Reisereporter und Buchautor. Bisher hat er drei Bücher seiner «Couchsurfing»-Reihe veröffentlicht – über den Iran, Russland und China. Sie alle standen wochenlang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste. Mit Mina Esfandiari und Samuel Zuder hat er zudem das Buch «Iran – Tausend und ein Widerspruch» veröffentlicht. Stephan lebt in Hamburg.

www.stephan-orth.de

Wie geht die Geschichte weiter?

Elaheh, die in der heiligen Stadt Maschhad wohnt, nimmt den Autor mit auf eine «Bikiniparty». Dabei geht es so unschuldig zu und her wie auf einer Kindergeburtstagsparty. Doch wegen der Outfits der Frauen wären alle verhaftet worden. Der Autor erlebt noch so manch zwiespältige Situation im Gastfreundlichkeits-Weltmeisterland Iran.

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