Im Kajak auf der Spree

Mein Kumpel Tolschefski und ich sind Faltboot-Fahrer. Wenns uns wieder packt, heisst es: Packsäcke aus dem Keller, ins Auto, nach Eichwalde, Mecklenburg, Polen, Schweden oder sonstwohin. Ausgepackt, aufgebaut, raus aufs Wasser – Freiheit.

Und diesmal? Beschliessen wir, die alte Heimat vom Wasser aus zu erkunden. Tolschefski zieht Strippen und lässt seine Beziehungen zum Kanuverein in Oberschöneweide spielen. Der Berliner Bezirk liegt direkt an der Spree. Faltboot aufbauen entfällt, denn dort schnappen wir uns einfach zwei Kunststoff-Kajaks, lassen sie ins Wasser plumpsen – fertig. Wie leicht das Leben sein kann. Bequemlichkeit obsiegt. Das Gefühl des Verrats am Faltboot macht sich klein und rollt sich vorne im Bug des Plastikbootes zusammen.

Blick vom Wasser – beide Ufer im Blick. Links, über 20 Meter breit an den Kai geschrieben: Nici, ich liebe dich. Am gegenüberliegenden Ufer die 30 Meter lange Antwort: I love you too. Enten am Ufer. Allein, zu zweit, in Familie. Die Weibchen braun gemustert, die Männchen aufgebrezelt mit violetter Schärpe. Allesamt niedlich und gute Laune verbreitend.
Wir lassen uns treiben, ohne in allzu grossen Aktionismus zu verfallen. Wolken malen Landschaften, Heerscharen und Schlachtengetümmel ins azurene Blau. Weit öffnet sich einem der Himmel, breitet sich friedlich über die Stadt, durch die wir die Spree entlang treiben. Wie wirklich fantastisch es uns geht. Herrlicher Sonntag, Ruhe, kein Fliegerdröhnen, kein Donnern in der Ferne, freundliche Flugzeuge am Himmel. Alles nicht so lange her, denke ich manchmal, wenn ich die Einschusslöcher an der Museumsinsel sehe.

Nach einer Stunde ist der Treptower Park nicht mehr weit. Wir sind etwas beschämt darüber, mit so wenig Kraftaufwand schon so weit gekommen zu sein. Legen uns also ins Zeug und paddeln mal so drei, vier Minuten am Stück. Und dann – heiteres Panorama – Treptow Nord ist erreicht! Unter wolkigen Sahnebergen und grauen Schaumgebirgen liegt es in strahlendem Sonnenlicht in seiner ganzen Herrlichkeit vor uns: Elsenbrücke mit Fernsehturm und Allianz-Tower. Wir arbeiten uns gemächlich Richtung Zentrum vor. Eine Frau am Ufer macht Yoga. Oder Tai Chi. Jedenfalls ist sie überrascht, ob der Störung vom Wasser her, hatte sie sich doch extra einen abgelegenen Platz gesucht. Wir trudeln weiter, landen an. Pinkelpause. Der Fluss ist eine lauwarme Brühe beim Ausstieg aus dem Boot. Der Sommer lässt sich nicht lumpen.

Über der Elsenbrücke schieben sich die Wolken übereinander. Davor tänzelt das Sonnenlicht. Bizarrer Kontrast. Welten in Bewegung. Linkerhand, vor dem Anleger der Stern und Kreis: drei Hausboote. Rechterhand die Condos der Halbinsel Stralau. Beides Premiumlage. Beides Berlin. Was kostet eigentlich so ein Hausboot-Liegeplatz, will ich mich gerade fragen, als über uns auf der Elsenbrücke die S-Bahn hinwegdonnert.

Auf dem Wasser schwebt die Stadt an uns vorbei. Beziehungsweise auf uns zu. Tolschefski in seinem Boot wirkt winzig vor den am linken Ufer aufragenden Treptowers, deren wahre Grösse einem erst von hier unten bewusst wird. Daneben die gelöcherte, dreiteilige Skulptur Molecule-Man. Sie macht «gib mir fünf». Symbolische Harmonie der Bezirke Friedrichshain, Kreuzberg, Treptow. Ich erinnere mich noch, dass bei seiner Entstehung niemand so recht wusste, was das Kunstwerk hier sollte. Nun ist es da und warum auch nicht. Wir halten auf es zu und klammern uns an die «Molecule-Feet». Gut hier. Noch schöner muss es nachts sein, wenn die Scheinwerfer an sind.

Wir fahren die alte Grenze entlang. Zwischen Friedrichshain und Kreuzberg. Auf der Friedrichshainer Seite gähnt das Riesenprojekt Mediaspree. Klobige Klötze. «Warum nicht?», kann man auch hier fragen. Genauso aber: «Warum?». Letzteres besonders, wenn man sich das Kreuzberger Ufer gegenüber ansieht: Badeschiff, Cafés am Landwehrkanal, Backsteinfassaden und baumschattige Promenaden. Gut, am Ostufer war die Mauer. Gewachsene Substanz kann man da nicht erwarten. Liebevoll von Menschen Errichtetes aber schon. Zum Beispiel Berlins ehemals schönste Spreeufer-Bar. «Oststrand» musste vor Jahren einem Wohnblock mit Luxusapartments weichen. Sexy ist anders.

Wir halten uns am linken Ufer, wo ein verrosteter Kahn seit Jahren vor sich hin dümpelt. Vorbei am Partyschiff MS Hoppetosse bis zum Badeschiff. Der Himmel hat inzwischen bedrohliche Züge angenommen, aber einige Mutige steigen noch ins Badebecken oder suchen in Liegestühlen nach einem Flecken Restsonne. Tolschefski und ich würden auch gern mit rein, aber der Bademeister gibt Obacht: Von aussen anlanden ist nicht.

Wir biegen in den Landwehrkanal ein. Hotspot der Reiseführer. «Club der Visionaere» – Cafeplätzchen und Einkehre auf Holzstegen direkt am Wasser. Techno oder Electro oder sowas bummert im schmalen Kanal. Es war mal sehr lauschig hier. Dann kam Clubmusik. Den Schwänen machts nichts aus. Eine ganze Familie zieht an den Visionären vorbei. Ein Stück weiter hinten kommen wir nicht weiter, stossen an eine Barriere im Kanal vor der Brücke zwischen Puschkinallee und Schlesischem Tor. Wieder ehemalige Grenze. Hinter der Barriere fällt das Wasser ab. Davor stauen sich Treibmüll und ein dicker toter Fisch.

Doppelzipfel mit U-Bahn: die Oberbaumbrücke. Leute schauen zu uns hinunter. «Eat this», Reinhard Mey! Die Freiheit ist mitnichten über den Wolken. Da sieht man ja nicht mal was, weil man eben die Wolken unter sich hat. Die Freiheit ist hier auf der Spree zu finden. Die Runtergucker spüren das und schauen noch eine Weile.
Wir landen beim Hostel-Schiff an, gleich neben dem Speicher. Der heisst jetzt aber Pirates. Wir holen Stullen raus und halten uns an der Notfallleiter am Ufer-Kai fest. Wellen schaukeln. Stullen schmecken. Drüben am Kreuzberger Ufer bastelt einer ein Holzschiffchen. Setzt es ins Wasser und fotografiert sein Werk.
Für jedes unmotorisierte Boot ist ab der Oberbaumbrücke Schluss. Insofern haben wir uns schon in verbotene Gewässer begeben. Piraten-Style. Also zurück. Schade, ab hier würde es erst richtig spannend.

Zurück am Treptower Park halten wir auf das Ausflugsrestaurant Zenner zu, ein Eis ist unser Ziel. Ah, Zenner! Magnet des kleinen Mannes, der sein Schwerverdientes am Wochenende für Molle, Korn und Bocki – Bier, Schnaps und Bockwurst – auf den Tisch legt. Anlegen ist schwer, der zentrale Anleger, quasi die Driveway zum Zenner, ist zu hoch für uns. Doch hinter einer kleinen Brücke können wir die Boote problemlos ans Ufer ziehen. Tolschefski geht Eis holen. Leute pendeln zwischen Insel der Jugend und Zenner. Schauen rüber. Können die Boote nicht ganz einordnen. Ein kleines Mädchen ist aus dem Häuschen, zeigt auf die Kajaks und zupft an Mutters Arm. Doch die möchte weiter.

Tolschefski kommt mit dem Eis zurück. Wir stehen und knacken die Schokoladenummantelung und schauen auf den Trubel auf dem Wasser und im Park. Die Leute zieht es in der drückenden Stadthitze noch immer ins Grüne, wo sie sich zu Schlangen an den Eisdielen formen, zu Liegegruppen auf den Wiesen und Tretbootflotten auf der Spree. Was das betrifft, hat sich seit der Wende eigentlich nicht viel verändert. Als Tolschefski und ich, je ein Eis in der Hand, schon unsere nächste Fahrt planen, wird uns jedoch kurz bewusst, wie gut es sich anfühlt, heute weiter und ferner denken zu können, als wir es uns vor über 30 Jahren hätten erlauben können.

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