Unterwegs mit entfernten Verwandten

Ruanda ist kleiner als die Schweiz und gilt als afrikanischer Vorzeigestaat: Wirtschaftswachstum, Umweltschutz, Geschlechtergleichstellung. Wibke Helfrich findet im ostafrikanischen Land neue Freundinnen und begegnet einer Menge haariger Verwandter.

Text & Bilder: Wibke Helfrich

Entsetzt schaut mich Solange an. «Wie, du möchtest keine Kinder?» In Ruanda keine Kinder haben zu wollen, ist ungefähr so, als wäre man vom Teufel besessen. «Ich werde dich segnen, dann wirst du Kinder bekommen», sagt sie und legt mir ihre Hand auf den Brustkorb. Ich weiche prophylaktisch einen Schritt zurück. Mit Ende vierzig habe ich das gebärfähige – und vor allem gebärwillige – Alter überschritten. Aber Solange lässt das nicht gelten. Die Ruanderin ist im neunten Monat schwanger und posiert gerade zusammen mit ihrer Freundin am Ufer des Kivusees in der untergehenden Sonne für einen Fotografen.

Hier in der Bucht von Karongi sieht der See, der die natürliche Grenze zur Demokratischen Republik Kongo bildet, eher aus wie ein Fjord. Viele kleine Inseln mit verheissungsvollen Namen wie Affen- oder die Feldmausinsel, liegen malerisch im achtgrössten See Afrikas verstreut. Wenige Minuten zuvor schlenderte ich gemütlich dem Ufer entlang, als mich die beiden Freundinnen in ein familiäres Gespräch verwickelten, obwohl wir noch nicht einmal die gleiche Sprache sprechen. Aber durch amüsante Pantomime und der bruchstückhaften Übersetzung eines anderen zufällig vorbeilaufenden Passanten, verstehen wir uns auf Anhieb.

Solange hat drei Söhne, deren Fotos sie mir stolz auf dem Handy zeigt und wünscht sich sehr, dass ihr viertes Kind ein Mädchen wird. Im Durchschnitt bringt jede ruandische Frau vier Kinder zur Welt. Mit durchschnittlich 525 Einwohnern pro Quadratkilometer ist Ruanda eines der am dichtesten bevölkerten Länder Afrikas. Der wachsende Bedarf der Bevölkerung an Holzkohle fürs Kochen und Raum für die Landwirtschaft, bedrängt die geschützten Flächen der vier Nationalparks im Land.

Kluges Management

Mit all diesen Problemen im Hinterkopf, hatte ich mich vor der Reise gefragt, ob Ruanda einen Besuch wert ist und vor allem auch, ob das Land sicher sei. Die Antwort nach der Reise in das ostafrikanische Land ist eindeutig Ja.

Ruanda gilt inzwischen als eines der Vorzeigeländer des afrikanischen Kontinents in Bezug auf Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und die ungewöhnlich hohe Teilhabe von Frauen an der wirtschaftlichen und politischen Macht. Vor allem aber in Bezug auf Sicherheit: Ich fühlte mich jederzeit und überall sicher, auch wenn ich alleine unterwegs war.

Doch was ist das touristische Angebot in dem kleinen Land, das rund zwei Drittel der Grösse der Schweiz hat? Noch kommen die meisten Besucherinnen und Besucher, um die berühmten und leider stark gefährdeten Berggorillas zu sehen. In freier Wildbahn lebt diese Gorillaart nur noch im Bwindi-Nationalpark im südwestlichen Uganda und an den steilen Berghängen des Vulkan- und des Virunga-Nationalparks, deren Vulkane sich über die Landesgrenze zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Ruanda erstrecken. Auch ich will die berühmten Primaten sehen.

Auch bei meinem Besuch im Vulkan-Nationalpark geht es um Babys. Jedes Jahr am 24. September, dem Welt-Gorilla-Tag, werden die neugeborenen Gorillas getauft. Dem Tag, an dem die berühmte Zoologin und Verhaltensforscherin Dian Fossey 1967 hier im Norden Ruandas das Karisoke-Forschungszentrum gründete.

Was mir auf den ersten Blick etwas seltsam vorkommt, ist bei genauerem Hinsehen eine gut durchdachte Strategie, um das Bewusstsein für den Schutz der Berggorillas zu schärfen und um Spenden zu sammeln. Das Rezept scheint Erfolg zu bringen. Denn während alle anderen Menschenaffenpopulationen rückläufig sind, nimmt die Zahl der Berggorillas langsam wieder zu. In den 1980er-Jahren wurden im Virunga-Massiv noch 242 Exemplare gezählt, heute sind es über 1000.

Die Einnahmen aus dem Verkauf von Besuchsgenehmigungen für ein Gorilla-Trekking tragen auch zum Erhalt der drei anderen Nationalparks im Land bei. Mit 1500 Dollar pro Person ist das kein günstiges Vergnügen. Zehn Prozent der Tourismuseinnahmen gehen an die um den Park lebenden Gemeinden, und die Einheimischen werden als Tierärzte, Forscher, Fährtenleser, Träger und Führer beschäftigt, während andere in Safarilodges und Camps arbeiten.

Berggorillaglück

Loyce, eine der 24 Ranger und Rangerinnen im Vulkan-Nationalpark und Primaten-Expertin, begleitet uns heute. Sie gibt uns am frühen Morgen am Besucherzentrum des Nationalparks ein ausführliches Briefing über das Verhalten und die Angewohnheiten unserer haarigen Verwandten. «Wenn ihr ein Geräusch wie Räuspern macht, bedeutet das für die Gorillas, dass alles okay ist.»

Mit dieser wichtigen «Vokabel» im Hinterkopf machen wir uns auf den Weg. Eine Stunde haben wir mit «unserer Sippe», sobald die Tier-Tracker eine Familie geortet haben. Maximal acht Touristen gleichzeitig dürfen eine der zwölf Sippen besuchen, die an Menschen gewöhnt sind.

Mit dem Jeep holpern wir ein Stück den Berg hinauf. Dann geht es zu Fuss weiter. Hier auf 2000 Metern Höhe ist die Luft deutlich kühler. Sobald wir den Wald an den steilen Berghängen betreten, gibt es nur noch eine dichte Vegetation – alles in mystisches Grau des Nebels verpackt. Ich fühle mich live in die Filmkulisse von «Gorillas in Nebel» versetzt. Mit jedem Schritt steigt die Anspannung.

Wir haben Glück: Nach nur knapp 30 Minuten kreuzt ein stattlicher Silberrücken unseren Weg. Schnell legen wir die Rucksäcke ab, setzten zum Schutz der Gorillas die vorgeschriebenen Schutzmasken auf und folgen dem Gorillamännchen in sicherem Abstand zu seiner Sippe. Loyce lächelt: «Willkommen bei der Amahoro-Familie.»

Ein lang gehegter Kindheitstraum geht damit für mich in Erfüllung. Vor uns liegt ein Knäuel aus schwarz behaarten Leibern, gemütlich aneinander gekuschelt. Familie «Frieden», was Amahoro übersetzt heisst, macht Mittagsschlaf. Ein Gorillababy, das gerade gestillt wird, hebt das Köpfchen und schaut uns neugierig an. Wir sind entzückt!

Land der 1000 Hügel

«In Ruanda gibt es nur eine flache Stelle, und das ist der Flughafen», kichert Deborah, unsere Führerin im Nyungwe-Nationalpark, als ich am nächsten Tag während einer Wanderung bei einem Anstieg schnaufe wie eine Dampflok. Deborah scheint sich kaum anstrengen zu müssen, dabei sieht sie so zierlich aus, dass man sie trotz ihrer 24 Jahre für eine Teenagerin halten könnte. Den Lohn für ihre Arbeit als Guide spart sie für ein Studium. Nach dem eindrücklichen Ndambarare-Wasserfall, der idyllisch und einsam mitten im Dschungel in ein grosses Becken tost, gehts zu einem weiteren Highlight: dem einzigen Canopy-Walk in Ostafrika.

Bei der Wanderung dorthin, durch dichten Baumbestand, der zu den ältesten noch bestehenden und grössten Bergurwäldern auf dem Kontinent zählt, sehe ich nur Grün. Hunderte verschiedene Pflanzen und mehr als 100 Orchideengattungen gedeihen in den Wäldern. Ehrfürchtig wandern wir hindurch und lauschen den Geräuschen der Natur. Jedes Wort wirkt hier fehl am Platz. Flüsternd erklärt uns Deborah, dass die Vögel am Abend anders rufen als am Morgen. Nur wenige Meter vor uns huscht ein Affe über den Weg – so schnell, dass ich ihn nur als Schatten wahrnehme.

Nach einer Stunde Abstieg haben wir die Hängebrücke erreicht – ein schmaler Metallsteg führt 70 Meter über dem Boden auf die andere Seite der Schlucht. Von hier blicke ich über die Wipfel der uralten Baumriesen, dichte Nebelschwaden steigen aus dem Dschungel auf.

Kometen im Wald

Am nächsten Morgen stehen wieder Affen auf dem Programm. Diesmal die lebhaften Schwarz-weissen Stummelaffen. Sobald wir im Dschungel sind, sehen wir die Tiere in der Ferne geschickt von Baum zu Baum springen. Ihre langen weissen Deckhaare schwingen wie ein Kometenschweif hinter ihnen her. Unsere Gruppe ist ganz aufgeregt. «Denkt daran, dass ihr fünf Meter Sicherheitsabstand einhalten müsst», schärft uns Deborah noch einmal ein. Bei unserer momentanen Entfernung von den Tieren können wir von dieser Distanz nur träumen.

Mit Macheten bewaffnet räumen Deborah und die Tierspäher kleinere tote Äste aus dem Weg, sodass wir den Affen durch das Unterholz folgen können. Mehr als einmal rutsche ich auf meinem Hosenboden einen kleinen Abhang hinunter, zu sehr auf die schwarz-weissen Primaten fokussiert, um auf meine Füsse zu achten. Nach einiger Zeit haben sich die Affen an uns gewöhnt. Sie sitzen über uns in den Bäumen und mümmeln Blätter und Blumen.

Während ich mich auf einem Baumstumpf ausruhe, setzt sich ein haariger Kumpel direkt neben mich, vom Sicherheitsabstand sichtlich unbeeindruckt. Überglücklich strahle ich ihn an, aber er steckt sich ungerührt ein weiteres Blatt in seinen Mund und springt dann geschickt wieder von dannen. Nach einer Zeit, die mir nur wie Minuten vorkommt, bläst Deborah zum Rückzug. Beim Auto angekommen, merken wir, dass wir vier Stunden unterwegs waren – wie doch die Zeit verfliegt, wenn man mit entfernten Verwandten unterwegs ist.

In diesem Moment vibriert mein Handy und zeigt mir ein Foto eines knuddeligen Babys im rosa Strampler. «Mein Wunsch wurde erfüllt», schreibt Solange. Und weiter, dass es ein gesundes Mädchen ist. Ich bin gerührt. Aber sie kann es nicht lassen und textet sogleich hinterher: «Ist die Kleine nicht süss? Magst du nicht doch noch ein Baby bekommen?»

Über die Autorin

Wibke Helfrich (49) wurde in Afrika geboren, studierte in England und wohnt inzwischen in Heidelberg, macht Regie, Konzept und Schnitt bei der preisgekrönten Filmproduktion «filmhochdrei». Auch ihre Fotografien wurden ausgezeichnet. Ihre freie Zeit verbringt sie damit, die Welt zu entdecken. Von 1990 bis heute war sie über 100 Monate in allen Kontinenten mit dem Rucksack unterwegs. Seit über 15 Jahren schreibt sie Artikel und macht Fotos für Zeitungen und Magazine. Schon als Kind träumte sie davon, einmal Berggorillas in freier Wildbahn zu sehen.

www.wibkestravels.net

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