Königin der Wüste

Mitten in der Wüste Thar thront die ehemalige Karawanenstadt Jaisalmer geheimnisvoll über allem und jedem. Hier öffnet sich ein Labyrinth aus verwinkelten Gassen, Tempeln, Cafés und Palästen aus 1001 Nacht, die Besucher aus aller Welt beherbergen. Wer Schönheit und Ruhe sucht, findet in Jaisalmer beides.

Auf dem Weg nach Jaisalmer hat die karge Schönheit der Wüste Thar den Augen nur selten eine Ablenkung geboten: Ab und zu Häuser aus Lehm und Stroh, ein kleiner Junge, der drei Ziegen vorantrieb, Frauen in farbenfrohen Saris an Wasserstellen, Schafe, die ihre schwarzen Köpfe unter den weisswollenen Leibern ihrer Artgenossen vor der erbarmungslosen Sonne schützten.

Doch dann, einer Fata Morgana gleich, flackerte Jaisalmer wie eine Tiara auf sandigem Untergrund einen Augenblick in der Ferne auf. Kurz darauf verwischte die flimmernde Luft wieder alle Konturen. Auf der holprigen Fahrt durch die Wüste war es unmöglich, die Entfernung zu schätzen. Indisches Carcassonne wird die Stadt im Norden Indiens zu Recht auch genannt. Ohne sichtbaren Übergang wächst eine gewaltige Festungsanlage aus Sandstein auf den Flanken eines 80 Meter hohen Tafelbergs. Und ich denke in diesem Moment an die Worte des Dichters Romain Rolland: «Wenn es einen Ort gibt, wo alle Träume seit den ersten Tagen, da der Mensch zu träumen begann, eine Heimat gefunden haben, dann muss er hier sein.»

Vor den Mauern des Forts strömt der Verkehr über den Marktplatz. Ein wilder Tanz von Schubkarren, Rikschas, Fahrrädern, fliegenden Händlern und Tuk-Tuks. Fünf Kühe stehen stoisch und stolz auf der Kreuzung, lassen sich durch nichts und niemanden aus der Ruhe bringen. Einige Händler lassen Sesamsamen durch die Finger rieseln, preisen Kümmel, Safran, Zimt und Muskatpulver an. Durch die offenen Fenster unseres Taxis weht ein Duftmix aus Gewürzen, Süssigkeiten, Duftwassern, Dieselabgasen und Kuhmist. Klänge von indischer Popmusik mischen sich unter das Stimmengewirr.

Der Himmel ist hellblau, und nahe des Eingangstors zum Fort sitzt ein Schuhmacher ohne erkennbare Zähne. Er löst alte Sohlen und nagelt neue. In seinem verbeulten Eisentopf köchelt eine Masse, die aussieht wie Tinte. Auf einem Schwarzweissfoto hätte dieses Motiv zweifellos eine magische Wirkung, man wäre hingerissen vom Zauber der morgenländischen Exotik.

Jaisalmer, die frühere Hauptstadt eines Rajputen-Fürstentums, gehört zum Bundesstaat Rajasthan. 60 Kilometer sind es von hier bis zur Grenze zu Pakistan. Die Rajputen sind als heldenhafte Kämpfer bekannt, die eher in den Tod gingen als sich dem Sieger zu beugen. Den Rajasthani ist dieser Stolz auch heute noch anzusehen. Die Männer tragen weisse Baumwollkombis und farbige Turbane, ihre Schnurrbärte sind akkurat gestutzt.
Frauen sieht man seltener auf den Strassen und in den Geschäften, doch sie scheinen schlanker und grösser gewachsen zu sein als ihre Männer. Die meisten sind in bunte Saris gewickelt. Die jungen Einheimischen brausen in engen Schlaghosen und mit wild bedruckten Hemden auf Motorrädern durch die Stadt, als wären sie gerade einem Film aus den 1970er-Jahren entsprungen.

Welch ein Unterschied zur Vergangenheit. Vor 200 Jahren hatten sich reiche Kaufmänner an der Peripherie des damaligen Stadtbereiches Palasthäuser, sogenannte Havelis, erbauen lassen, die sogar noch die Residenz des herrschenden Fürsten an Pracht übertrafen. Die Fassaden sind faszinierende Kompositionen. Hinzu kommen Balkone, Erker, Fenster und Eingangsbereiche mit Säulen. Die noblen Handelshäuser waren noch gar nicht so alt, da erreichte Jaisalmer die Kunde von einer umwälzenden wirtschaftlichen Entwicklung: Der Hafen von Bombay wurde an die Eisenbahn angeschlossen. Da konnten und wollten die Reichen der Karawanenstadt nicht fehlen. Mit deren Wegzug aus der Wüste aber blieb in Jaisalmer die Geschichte für lange Zeit stehen.

Die schönsten Sandsteinhäuser, die einander über die Strassen hinweg fast berühren, beherbergen heute Museen oder fungieren als edle Touristenunterkünfte. Wo einst mit Seide, Rubinen und Safran gehandelt wurde, entstanden kleine Luxushotels, stilgerecht renoviert. Und nun soll das Geld der Touristen die bröckelnden Fassaden stützen. Dem weitgereisten Gast soll es an nichts mangeln. Dafür sorgen improvisierte Internetcafés, raubkopierte Bestseller von Gregory David Roberts («Shantaram») oder Arundhati Roy («Der Gott der kleinen Dinge») sowie eine «German Bakery» mit Zimtschnecken und französischen Croissants.

Überall stösst man auf den Gegensatz zwischen Vertrautem und Aussergewöhnlichem. Prachtbauten stehen neben niedrigen, halb verfallenen Wohnhäusern. Hinter einer Satellitenschüssel geht ein kleines Kind in die Hocke, um sein Geschäft zu verrichten. Mit einem elektrischen Gabelstapler werden Fernsehgeräte von einer Karre mit Holzrädern heruntergehoben. Es kommt mir vor, als sei eine schwerfällige, ferne Vergangenheit durch die Grenzen der Zeit in die Zukunft eingebrochen. In solchen Augenblicken ist Jaisalmer verwirrend, aufregend und hinreissend schön zugleich.

Es scheint, als hätte ich nirgendwo auf der Welt in so vielen Augen ein Lächeln gesehen wie bei den Menschen hier. Dennoch machen die Bedürfnisse, das wilde Treiben, erzeugt aus Nöten und Begehrlichkeiten, die Heftigkeit des Alltages bewusst. Diese Farben! Diese Düfte! Diese Überflutung der Reize! Je länger ich hier bin, desto mehr achte ich auf den einzelnen Menschen, und ich sehe, wie geschäftig alle sind, wie sehr ihr Fleiss und ihre Energie ihr Leben bestimmen. Und auch wenn die staubigen Strassen oft mit Wohlstandsmüll wie leeren Plastikflaschen und Chipstüten bedeckt sind – blickt man hinein in die flachen Häuser, sieht man dort Sauberkeit, frisch gekehrte Böden, ordentlich gestapelte, schimmernde Kochtöpfe.

Ganz oben im Fort, wo Ruhe und Enge dominieren, drängen sich allzu viele schöne Steinhäuser im Schutz der vollständig erhaltenen Mauer aus dem 16. Jahrhundert. Hinter dem Hawa Pol, dem Tor des Windes, wartet ein Labyrinth von verwinkelten Gassen und wunderschönen Tempeln, die mich zurückführen zu den Tagen meiner Kindheit. Damals las ich die «Geschichten aus 1001 Nacht». Ich hörte die Stimme von Scheherazade, die ihren König mit ihren Erzählungen allabendlich in eine geheimnisvolle, orientalische Fantasiewelt führte.

Zahlreiche der mit so viel Kunstfertigkeit errichteten Gebäude sind bei verheerenden Regenfällen Mitte der 1970er-Jahre eingestürzt. Der Stadt fehlte das Geld um sie zu restaurieren. Die Sandsteinfassaden, die wie gigantische Goldschmiedearbeiten wirken, sind vom Ruin bedroht. Ihre Besitzer können den Unterhalt nicht mehr bezahlen, der Staat hat andere Prioritäten. «Unsere Chance ist der Tourismus», sagt ein junger Hoteldirektor, spielt dabei an seinem Mobiltelefon herum. Dann fügt er an: «Wenn genug Fremde wegen der Havelis kommen, wird sich vielleicht das Interesse an ihrem Erhalt erhöhen.»

Unter der Sonne des nächsten Tages ist die scheinbare Bedrohung vergessen. Heute wird Diwali, das Lichterfest der Hindus, gefeiert. Und das mit einem Höllenlärm. Böllerschüsse werden in die Luft gefeuert. Ein Festzug wälzt sich durch die Hauptgasse. Männer, Frauen und Kinder haben sich für diesen Tag neue, besonders farbenprächtige Kleider gekauft, und überall wird man mit «Happy Diwali» gegrüsst und zu Süssigkeiten und Tee eingeladen. Von wegen Fest der Lichter! Dem lauten Teil der Feier trotzen dennoch unzählige Öllichter, bunt blinkende Lichterketten und vor jedem Hauseingang ein kleiner Tempel zu Ehren von Lakshmi, der Göttin des Glücks und des Reichtums.

Es wird Nacht in Jaisalmer. Der Rauch vom Feuerwerk hängt in der Luft, drei Mädchen tänzeln barfuss zwischen den abgebrannten Knallkörpern herum, schwenken wehmütig ihre letzten Wunderkerzen. Ein junger Mann singt ein Liebeslied, die Kopfhörer seines Handys unter seinem Turban verborgen. Dann steht der volle Mond über der Wüstenstadt. Die Sterne scheinen hier heller zu leuchten als anderswo.

Märchenhafter geht es nicht. Es ist fast kitschig. Kitsch entlastet. Kitsch verklärt. Einziger Sinn von Jaisalmer, mag der Fremde denken, sei die Verzauberung. Doch dann fällt einem auf, was man gleich zu Anfang hätte bemerken müssen: Die Schönheit dieser Menschen, in Purpur, Pflaumenblau und Gold gehüllte Frauen, die mit ruhiger, erhabener Anmut zurück in ihre Häuser schreiten, die Würde der Männer mit ihren von der Sonne gegerbten Gesichtern und mandelförmigen, bernsteinfarbenen Augen, die herzliche Ausgelassenheit und die liebevolle Kameradschaft der Kinder. Ältere spielen mit jüngeren, und viele tragen die Kleinsten auf der Hüfte nach Hause. Nein, das ist kein Kitsch. Auch kein Märchen aus 1001 Nacht. Das hat nichts mit einem Bollywood-Film zu tun. Dieser Moment ist echt. Ich fühle mich genau hier, genau jetzt, alles andere als fremd.

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