Das Ende der Welt

 

Der Ausblick ins Tal von El Golfo ist fantastisch. Ich stehe am Rand der Cumbre, einem Bergkamm, der sich von Ost nach West über El Hierro zieht. Ich will hinauf zum höchsten Punkt der Insel, auf den 1500 Meter hohen Pico Malpaso. Der Gipfel ist über verschiedene Wanderwege zu erreichen. Ich entscheide mich für den bekanntesten Wanderweg, den Camino de la Virgen. Ich starte jedoch schon in der Hälfte des Weges, beim Parkplatz der Kultstätte Cruz de Los Reyes. Es ist eine leichte Wanderung auf bequemen Wegen und es sind nur 250 Höhenmeter zu erklimmen. Der Weg sonnenausgesetzt und trotz des Windes ist es ganz schön heiss, aber die Aussicht ist wunderbar, ich bin begeistert. Oben angekommen blicke ich auf kahle Landschaft, nur vereinzelt wächst ein Busch aus der Lavaasche.

Teneriffa, Fuerteventura und Gran Canaria – das sind die bekannten Namen der Kanaren. Meine Reise führt mich auf die unbekannteste der sieben kanarischen Inseln, nach El Hierro. Sie liegt ganz im Westen des Archipels und ist die ursprünglichste, einsamste und kleinste der Inseln. «Klein, aber oho» ist das passende Prädikat für El Hierro.

Dank der abseitigen Lage im Atlantik ist die Insel bis heute vom Massentourismus verschont geblieben. Die Natur ist noch weitgehend erhalten und intakt. El Hierro gilt als Geheimtipp und Alternative für Kanarenfans und Wanderlustige, die in ihren Ferien vor allem Ruhe und Erholung suchen. 2000 wurde die Insel von der UNESCO zum Biosphärenreservat erklärt, ausserdem besitzt sie das Gütezeichen «Geopark». Eine weitere Besonderheit ist, dass der gesamte Energiebedarf für die Insel ausschliesslich aus erneuerbaren Energien, also aus Sonnen-, Wind- und Wasserkraft, gewonnen werden kann.

Bis zur Entdeckung Amerikas galt El Hierro als das westliche Ende der Welt. Und ein bisschen fühlt es sich auch heute noch so an hier. Ich bin auf der knapp 269 Quadratkilometer kleinen Insel in den letzten Tagen nur wenigen anderen Reisenden begegnet. Trotz der überschaubaren Grösse und der geringen Höhe gibt es auf El Hierro aufgrund des gut ausgebauten Wegenetzes und der sehr dünnen Besiedelung fantastische Wandermöglichkeiten, die allen Ansprüchen gerecht werden.

Mit meinem Mietauto komme ich von meiner Unterkunft aus überall gut hin und erreiche die Ausgangspunkte für meine Wanderungen problemlos. Die Insel ist recht überschaubar und mit dem Auto bin ich flexibel. Zwar gibt es ein Bussystem auf der Insel, das jedoch nicht so gut ausgebaut ist was die Erreichbarkeit kleinerer Orte schwierig macht.

Typisch für die schroffe Vulkaninsel sind die Hochebenen und die eindrucksvollen Buchten, die von mächtigen Felswänden umrahmt sind. Im sonnigen Süden dominieren Lavalandschaften und um die meistens wolkenverhangene Cumbre im Hochland findet man mystische Kiefern- und Nebelwälder, die zu den schönsten des gesamten Archipels gehören. Die durch den Wind bizarr geformten Wacholderbäume sind beinahe einzigartig. Die Nachbarinsel Teneriffa kann mit einer ähnlich spektakulären Landschafts-Vielfalt aufwarten, aber auf El Hierro ist alles auf noch weniger Raum mit weniger Touristen und grösserer Ruhe zu finden. Dementsprechend viel gibt es zu entdecken und zu fotografieren. Ich spüre hier definitiv eine Wildheit und Unberührtheit, die man auf den anderen Kanareninseln oft vergeblich sucht.

Einer meiner Lieblingsplätze auf der Insel ist Playa del Verodal. Der Strand liegt abgelegen in einer felsigen Bucht und fällt durch seinen rot-schwarz schimmerndem Vulkansand sofort auf. Vom Baden wird hier aufgrund der starken Strömung abgeraten. Die imposanten Steilklippen hinter dem Strand und die schroffe Küstenlinie zusammen bilden aber ein wunderschönes Panorama.

Mich zieht es auch immer wieder hinauf in die hochgelegenen Wälder, in denen eine ganz spezielle Stimmung herrscht. Zwischen 800 und 1500 Metern Höhe liegt der Laurisilva, der immerfeuchte Nebelwald. Die Passatwolken, die die üppig grüne Pflanzenwelt gedeihen lassen, beherrschen das Klima. Hier können Lorbeerbäume bis zu einer Grösse von 30 Metern heranwachsen. Es ist einfach herrlich, durch diese eigenwillige Flora zu wandern.

Der südliche Teil der Insel ist der wärmste und trockenste. Die Gegend um den kleinen Küstenort La Restinga, am südlichsten Punkt der Insel, ist für mich am spannendsten. Jungvulkanischer, schwarzer Lavastein bedeckt die Umgebung – Lava, die einst in den erstaunlichsten Formen erstarrte. Eines fällt hier ganz besonders auf: die geraffelte – oder wie ein Strickmuster anmutende – Oberfläche der «Stricklava». Es sieht aus, als fliessesie über die Hänge, an anderen Stellen wieder ist sie zu spitzen und scharfkantigen Türmchen zusammengepresst. Die Lava bietet mir eine Fülle von Fotomotiven. Besonders schön ist die Szenerie im letzten Licht der untergehenden Sonne.
Ich schliesse die kleine Insel im Atlantik, dieses Naturparadies und fotografische Eldorado, fest in mein Herz.

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