Abenteuer auf zwei Rädern
Wir sitzen neben ein paar älteren Frauen auf einer Bank vor einem kleinen Café in der Bergregion von Bosnien und Herzegowina.
Eine junge Frau nähert sich uns. Ihr gebrochenes Englisch und unser nicht vorhandenes Bosnisch führen zu einer Konversation, die wir grösstenteils mit Handgesten führen. «Dort drüben liegt meine Grossmutter begraben», sagt sie und zeigt auf den örtlichen Friedhof. «Sie war alt und hatte ein glückliches Leben.» Unsere Blicke folgen dem ihren, zu der alten, verfallenen Kirche und dem angrenzenden Friedhof. Wir nicken und sprechen unser Beileid aus – nicht ganz sicher, ob wir dabei respektvoll oder einfach nur unbeholfen wirken.
Später kommen wir auch mit den anderen Frauen ins Gespräch. Sie wollen wissen, was uns nach Bosnien und Herzegowina führt, und was wir bislang für Eindrücke vom Balkan haben.
Es ist Ende April. Unsere optimistische Planung während des Sommers in Australien – wo wir leben – hat die eisigen Temperaturen des europäischen Frühlings nicht berücksichtigt. Als wir vor ein paar Tagen in Sarajevo angekommen sind, bewegte sich die Temperatur nahe dem Gefrierpunkt – und es schneite vom Morgen bis am Abend.
Unser leichtes Gepäck für eine Gravelbike-Tour erweist sich als unzureichend. Unglaublich kalte Füsse und Beine sind die Folge. Und so ist die Begegnung mit den einheimischen Frauen eine willkommene Pause, während wir unsere Hände an Tassen mit heissem Tee wärmen.
Wir teilen zerbröselte Kekse aus unseren Taschen und erhalten im Gegenzug von der jungen Frau handgestrickte Bettsocken. «Die hat meine Grossmutter vor ihrem Tod gestrickt», erzählt sie uns. «Sie werden euch warmhalten!» Wir sind überwältigt von der Grosszügigkeit und fühlen uns unwohl, ein solches Geschenk anzunehmen, sehen aber keine Möglichkeit, es abzulehnen. Wir bedanken uns von Herzen, dann setzen wir unsere Fahrt fort – von nun an mit warmen Füssen.
Wir haben Erfahrung im Planen von mehrtägigen Wanderungen und anderen Outdoor-Aktivitäten, aber eine mehrtägige Radtour in einem fremden Land ist für uns ein neues Abenteuer. Doch wir kommen gut voran. Schnell finden wir einen Rhythmus, der uns beiden passt. Der Vergleich mit anderen Bikern oder das Lernen von ihnen ist kaum möglich. Nur wenige Bikepacker sind in Bosnien und Herzegowina anzutreffen.
Wir sind gerne abgelegen unterwegs, bevorzugen Schotterstrassen mit nur wenigen Autos. Die finden wir auf der Bosnian Highline Route. Wir fahren über kahle Hügel, die von Schafen beweidet werden. Lokale Hirten sind hier kaum zu sehen, aber ihre Hunde jagen uns, als wären wir bissige Wölfe. Aus Angst vor den knurrenden und bellenden Vierbeinern treten wir schneller in die Pedale. Schnell aber lernen wir, dass das Verlangsamen oder Anhalten die Hunde beruhigt – und nicht zuletzt auch Balsam ist für unsere von Laktat durchtränkten Beine.
Die Wege werden enger und steiler. Wir tragen unsere Gravel Bikes auf dem Rücken, oder schieben sie steile Hügel hinauf. Doch wir werden für die Strapazen belohnt. Jeder Hügel, jeder Gipfel bietet atemberaubende Ausblicke auf zerklüftete Berge und Wälder, die zu unserem nächsten Abenteuer einladen.
Auf der historischen Ćiro-Route von Mostar nach Dubrovnik fahren wir durch zwölf pechschwarze Tunnel. Einige sind mit Hunderten von Fledermäusen bewohnt, die von den Decken hängen. Unsere Stirnlampen erleuchten den Tunnel. Der stechende, stinkende Geruch – eine Mischung aus Fledermauskot und der stickigen, modrigen Luft – raubt uns den Atem. Anhalten und die Tierchen genauer betrachten? Keine gute Idee! Der Boden ist mit den Exkrementen bedeckt. Und in diesen auszurutschen, steht definitiv nicht auf unserer Abenteuer-Bucket-Liste.
Die Grosszügigkeit der Einheimischen, die wir treffen, ist beispiellos. Manchmal fühlen wir uns wie an der Tour de France. Von wildfremden Menschen am Strassenrand werden wir angefeuert, Autofahrer hupen aufmunternd, Geschenke wie Energydrinks, Bananen und Schokolade bekommen wir angeboten. Das fördert die Motivation. Unsere müden Beine gewinnen nach jeder dieser Begegnungen zusätzlich an Stärke und Entschlossenheit.
Bosnien und Herzegowina ist ein verstecktes Juwel, über das wir vor unserem Abenteuer nur wenig wussten. Das junge Land trägt die Last einer komplexen Geschichte, mit politischen Strukturen, die durch das Dayton-Abkommen von 1995 geschaffen wurden. Die Nachwirkungen des Bosnienkriegs werfen noch immer einen Schatten über die Nation und beeinflussen ihr politisches, ethnisches und wirtschaftliches Gefüge.
Der Charakter des Landes wurde durch verschiedene regionale Einflüsse geprägt, was zu einer bunten Mischung aus Ethnien und Religionen führte – darunter Islam, orthodoxes Christentum und römischer Katholizismus. Diese Glaubensrichtungen spiegeln die drei dominanten ethnischen Gruppen wider: Bosniaken, Serben und Kroaten.
Die multiethnische Bevölkerung von Bosnien und Herzegowina und ihre historische Lage zwischen Serbien und Kroatien haben das Land lange anfällig für nationalistische Bestrebungen gemacht. Humorvoll wird uns erzählt: «Die Leute helfen sich hier gerne gegenseitig, aber wenn sich die Gelegenheit ergibt zu provozieren oder sogar zu töten, tun wir es.» Diese Aussage verdeutlicht die tief verwurzelten Spannungen. Noch immer patrouillieren ausländische Militärs in bestimmten Gebieten. Von Kugeln durchlöcherte Gebäude erinnern an die dunklen Kriegszeiten.
Die letzten 20 Kilometer sind wir durch abgelegenes, hügeliges Gelände geradelt. Nun befinden wir uns in einem dichten Kiefernwald. Auf einer sonnigen Lichtung stoppen wir – und gönnen uns einen Snack. Plötzlich zuckt mein Partner zusammen, gefolgt von einem nervösen Lachen. Ein Knacken unter seinen Füssen hat ihm kurz Angst eingejagt. Nicht ohne Grund. Vor weniger als einer Stunde haben wir Schilder passiert, die mit roten Totenkopf- und Kreuzknochen-Symbolen vor Landminen warnten.
Laut dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) stellen über 80 000 Minen und nicht explodierte Munition noch immer eine latente Gefahr dar. Internationale Bemühungen zur Räumung dieser Minen sind im Gang, kommen aber nur schleppend voran.
Bosnien und Herzegowina mit dem Fahrrad zu erkunden, hat uns atemberaubende Landschaften, freundliche Einheimische und eine berührende Mischung aus Humor und Geschichte beschert. Die raue Schönheit und die komplexe Vergangenheit des Landes haben unser Abenteuer unvergesslich gemacht.
Von: | Martina Wyss [[email protected]] |
Gesendet: | Do 27. Juni 2024 20:00 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Bosnien und Herzegowina |
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