Wild, wilder, Florida

Im südöstlichsten Bundesstaat der USA leben freundliche Menschen. Aber auch Menschen, die Schlangen kurzerhand zu Gürtel verarbeiten und in Sachen Politik nicht mit sich reden lassen. Naturgewalten und wilde Tiere trüben das Zuckerwatte-Lebensgefühl nur kurz. Florida ist extrem – aber auch extrem anziehend.

Ausgabe: 153  Text und Bilder: Anna-Pia Kerber 

Es ist einer dieser Tage, an denen du nicht rausgehen kannst, weil die Gummisohlen auf dem glühenden Asphalt schmelzen. Es herrschen 104 Grad Fahrenheit – rund 40 Grad Celsius. Es ist einer dieser Tage, an denen sich die Moskitos vor der Verandatür formieren – bereit, über dich herzufallen.

Es ist August in Florida. Ein weiterer Tag im Paradies. Im Haus in Smyrna Beach läuft die Klima­anlage, doch davon habe ich nicht viel. Ich laufe zwischen Haupthaus und drei Gästehäusern hin und her, empfange Gäste, gebe Tipps gegen Sonnen­brand, Ratschläge zu den besten, haifreien Badezeiten, ich putze Zimmer, ziehe die Kingsize-Betten ab, nehme neue Reservierungen entgegen. Ich helfe dem Besitzer, der für ein paar Tage weggefahren ist.

Im hinteren Teil des tropischen Gartens stehen die Waschmaschinen in einer Hütte. Bis ich dort bin, sind meine nackten Beine bereits von Moskito­stichen verwüstet. Nur wenn es eindunkelt, ist es dort noch furchterregender: Neben Schlangen drücken sich auch die grässlichsten Insekten in die Ecken. Der Abend ist ohnehin das pure Insektengrauen: Dann tauchen fingerlange, bleiche Käfer auf, die hektisch und unkoordiniert angreifen und sich in den Haaren verfangen. Am schlimmsten sind ihre Geräusche, die klingen wie ein hohes, lautes Schreien.

Und ganz nebenbei habe ich noch ein Auge auf Ouhla, die sechs Monate junge Golden-Retriever-Hündin. In den Garten darf sie meistens nicht, weil sie der schwülen Hitze nicht gewachsen ist und sich auf dem Plattenweg die Pfoten verbrennt. Darf sie doch mal raus, liebt sie es, die handgrossen Heuschrecken zu fangen und zu zerlegen. Das Knacken und Krachen der harten Insektenkörper dringt so laut durch die Fliegengittertür, dass mich trotz Hitze eine Gänsehaut überkommt.

Schlangen.

Für Ian sind das Lappalien. Ian ist gebürtiger Floridianer und wohnt in der Nachbarschaft. Eine Bekannte hat ihn mir vorgestellt, weil sie weiss, dass ich gerne Touren in die Wildnis mache, um Alligatoren zu sehen. Sie findet es zu gefährlich, um allein zu gehen, also begleitet mich Ian. Vergangene Woche hat er eine Giftschlange geschossen, ihre Haut abgezogen und daraus einen Gürtel gemacht. Vollkommen legal, denn: Du darfst keine Schlangen in der Wildnis jagen, aber wenn sich die Schlange auf dein Grundstück verirrt, darfst du sie schiessen.

Ebenso wie die Python, die als invasive Art in Florida völlig überhandgenommen hat und sogar Alligatoren verspeist. Bis zu fünf Meter lang kann sie werden, und ihr zu Ehren gibt es ein jährliches Jagd-Event, bei dem sich jeweils etwa 850 Schlangenjäger anmelden. Ian ist auch dabei. Er ist ein Redneck wie aus dem Bilderbuch mit dem verbrannten Nacken, dem die Rednecks ihren Namen verdanken. Ian arbeitete in einem Waffenladen, bevor er anfing, mit Booten zu handeln.

Grundsätzlich hat er überhaupt nichts gegen Waffen einzuwenden. Doch er bekam irgendwann Skrupel, als er sich seine Kunden genauer ansah. «Um eine Waffe zu kaufen, brauchst du hier nichts weiter als einen Führerschein, der in Florida zugelassen wurde», erzählt er. Logisch – man hat ja auch viel mehr Reichweite, wenn man aus einem Wagen herausschiesst. Und man verfügt auch gleich über ein Fluchtfahrzeug.

Weil ich hier leben will, möchte ich mich anpassen. Dazu gehört ein Besuch auf dem Schiessstand. «Für Kinder ab 14 Jahren – auch mit Maschinengewehren!», wirbt das Unternehmen. «Ein Spass für die ganze Familie!» Ein junger Veteran gibt mir eine Einweisung. Ich darf mir verschiedene Waffen zum Testen aussuchen. Ich wähle die Glock 19.

Der Veteran zeigt mir die Zielscheibe in Form einer menschlichen Silhouette. Dann malt er ein winziges grünes Kästchen genau in die Herzgegend. «Dahin wirst du treffen», fordert er mich auf. Ich atme. Ziele. Atme. Drücke ab. Trotz der Ohrschützer ist es unfassbar laut, und der Rückstoss bei der Glock 19 enorm. Der Veteran fährt die Zielscheibe heran. Volltreffer. «Nice», sagt er anerkennend.

«Immer mehr Menschen wollten sich bewaffnen», sagt Ian beim gemeinsamen Essen mit unserer Freundin. Er faltet seine langen Beine unter den Tisch und bestellt Sushi mit Aal und Oktopus. Er nimmt meine Hand und besteht darauf, mir zu zeigen, wie man den Daumenknochen im Gelenk zum Krachen bringt. «In meiner Nachbarschaft wohnte dieser ältere Herr», sagt er nebenbei.

Krach! Ich zucke zusammen. «Er hatte eine Waffe, um sein Haus gegen Einbrecher zu verteidigen. Eines Nachts hörte er Geräusche an der Tür. Er konnte nicht mehr gut sehen, schlich im Dunkeln die Treppe hinunter und zielte auf die Tür. Er schoss seinem Enkel mitten in die Brust. Der hatte nur nach dem Schlüssel gesucht. War sofort tot.»

Haie.

Es sind Geschichten wie diese, die Florida zu einem unheimlichen Ort machen – weniger die Alligatoren und Haie. Dennoch gilt New Smyrna Beach offiziell als Welthauptstadt der Hai-Angriffe. Ians Vater besitzt hier neben einer Farm auch einen privaten Hangar mit Helikopter. «Von oben kannst du jeden Tag Haie im Wasser sehen.» Doch nahe am Ufer ist das Wasser oft undurchsichtig, weil ein grosser Strom ins Meer fliesst und den Sand aufwirbelt.

Der Sandstrand ist breit und postkartenschön, aber bisher habe ich noch niemanden gesehen, der sich weiter als bis zur Hüfte ins Wasser getraut hat. «Du siehst die Haie nicht, bis sie dich beissen», sagt der Strandwächter und lacht mein erschrockenes Gesicht frech weg. «Aber keine Sorge. Ich wurde bisher nur einmal gebissen.» Er streicht sich bedächtig über den dicken Bauch. Dann sagt er: «Auf die eine oder andere Art stirbt man sowieso.»

Die Einheimischen haben sich eine ganz besondere Badetaktik zu eigen gemacht: Ich beobachte eine Frau, die am Strand einen Klappstuhl in die kniehohen, warmen Wellen stellt. Sie parkt ihren massigen Körper auf dem Stuhl und starrt eine Weile in die Ferne. Dann schöpft sie mit einem Plastikeimer Wasser und giesst es sich über den Kopf. So geht Baden in Florida. Bis zur Hüfte getraue ich mich auch ins Wasser.

Es soll einige Monate dauern, bis ich mutiger werde und sogar mit den Haien schnorcheln gehe. Aber nicht in New Smyrna Beach, sondern da, wo das Wasser klar ist – und ich zumindest sehen kann, wenn ein Hai auf mich zukommt.

Wie geht die Geschichte weiter?

Von Miami aus fährt die Autorin in die Everglades, wo sie Alligatoren-Ringer am Rande der Sümpfe kennenlernt. Und sie erlebt ein Jahrhundertereignis: ein Hurrikan der Kategorie 5. Statt wie viele andere ins Inland zu flüchten, bleibt sie und erlebt den zerstörerischen Sturm hautnah.

Über die Autorin

Anna-Pia Kerber (39) ist Journalistin und Übersetzerin aus Deutschland. Ihre Recherchen führten sie ins Gefängnis, ins Bordell, ins Kloster und in den Boxring. Über 40 Länder hat sie bereist. Sie dokumentierte Geishas in Japan, den Überwachungsstaat Singapur während der Pandemie und das Leben unter den Wellblechdächern in Kuba. Am liebsten schwimmt sie mit Haien in Florida, wo sie 2024 ­mitten in die Hurrikane Helene und Milton geraten ist.

Instagram: anna_around_the_globe

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