Die Suche nach dem Maori-Jungen.
Katrin Staub erlebt in Rotorua eine bewegende Suche nach einem vermissten Maori-Jungen und kommt dabei der Kultur der Maori so nah wie nie zuvor.
Ausgabe: Nr. 126 Text: Katrin Staub
Auf meinen früheren Neuseelandreisen habe ich das den meisten Touristen bekannte Rotorua kennengelernt. Das Rotorua mit den Vulkanlandschaften, den farbigen Schwefelteichen, den Schlammblubberlöchern und dem gelblich grünen See. Das Rotorua, von wo aus Touren zu den Maori-Dörfern starten, wo man ihre Gesänge und Tänze kennenlernt. Auf dieser Reise jedoch möchte ich das unbekanntere Rotorua entdecken – dasjenige mit den 14 Seen in der Umgebung und dem grossen Redwood Forest. Deshalb habe ich mir für meinen Aufenthalt das kleine Back-packers-Guesthouse «Lion Lakestay» am Okarekasee, zwölf Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, ausgesucht.
Betty, die Hausbesitzerin, holt mich am Busbahnhof in Rotorua ab. Kaum bin ich in ihr Auto gestiegen, redet sie drauflos: «Hey Love, schau nur, dieser Verkehr! Es wird immer schlimmer hier. Ich muss mich beeilen, bevor die Gärtnerei schliesst.» Sie fuchtelt mit den Händen herum, als das Lichtsignal auf Grün schaltet, der vordere Wagen aber keine Anstalten macht loszufahren. «Nun fahr endlich!» Schmunzelnd betrachte ich Betty von der Seite. Die temperamentvolle Abwechslung ist mir nach der langen, ruhigen Busfahrt sehr willkommen. Ihr Haar ist blond und kurz geschnitten. Sie hat blaue, grosse Augen, die lustig und wach schauen. Ihren Hals und das rechte Handgelenk schmücken zwei elegante, feine Goldkettchen, und einige schlichte Ringe zieren die Finger. Sie trägt einen dunkelvioletten Plüschtrainer und Flipflops. Mit einem entschuldigenden Lächeln sagt sie an der nächsten roten Ampel: «Ach ja, I’m sorry, aber du kannst mir gleich etwas helfen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Ich muss Erde holen für den Garten. Hast du schon einmal eine neuseeländische Gärtnerei gesehen?» Ich bezweifle, dass neuseeländische Gärtnereien anders aussehen als die unseren. Trotzdem gehe ich gerne mit und freue mich gleichzeitig über Bettys unkomplizierte und direkte Art. Sie macht es einem leicht, sich nicht fremd zu fühlen.
Wir laden einige schwere Säcke Erde und Dünger ein. «Du scheinst einen grossen Garten zu haben», sage ich, während ich einen prüfenden Blick zum Heck des Wagens werfe. Es liegt ganz schön tief. Betty nickt lachend. «Ja, du wirst ihn bald sehen», sagt sie und fährt unbekümmert plaudernd aus der Stadt. Der Verkehr nimmt langsam ab. Wir fahren über einen Hügel zum Blue Lake und von da über einen weiteren, bewaldeten Hügelzug zum Okarekasee.
Ihr Haus liegt etwas erhöht über dem See und ist in das üppige Grün des Gartens eingebettet. Betty zeigt mir die kleine Wohnung im Erdgeschoss, die ich momentan alleine bewohnen darf. Erst übermorgen würden noch zwei Pärchen für ein paar Tage kommen. Sie öffnet die Terrassentür in der Küche, und frische Sommerluft strömt herein. Ich folge ihr durch die Tür auf einen Sitzplatz mit Grill und weiter in den Garten. Vor den Beeten voller Gemüse und Blumen bleibt sie stehen und sagt: «Schau, die grosse Zucchetti. Und die Tomaten sind auch reif. Bitte nimm dir, was du essen magst. Auch Salat und Kräuter gibt es da hinten. Es hat viel zu viel für mich und meinen Mann, also bitte keine falschen Hemmungen, der Garten ist für alle da.» Ich freue mich über die grosszügige Gastfreundschaft und bin froh, dass ich geholfen habe, die schweren Erdsäcke zu schleppen. Die Sonne scheint, es ist heiss, und ich frage Betty: «Wo kann ich jetzt am besten in den See, um ein kühles Bad zu nehmen?» – «Oh ja, der See, Love. Gleich über der Strasse gibt es einen kleinen Weg zu einem Steg, da kannst du schwimmen. Aber im Moment nicht.» – «Warum nicht?», frage ich. «Ach herrje! Hast du es nicht in den Nachrichten gehört? Gestern ist hier ein schrecklicher Unfall passiert. Zwei Maori-Jungs waren mit den Jetskis auf dem See. Mit hoher Geschwindigkeit natürlich, übermütig, wie Jugendliche eben sind. Der vorausfahrende Junge verlor in einer engen Kurve das Gleichgewicht und fiel ins Wasser. Sein Kollege konnte nicht mehr bremsen und hat ihn überfahren – einfach überfahren! Und niemand hat ihn bis jetzt gefunden. Rettungsleute und Taucher suchen intensiv nach ihm. Der arme Junge, er war erst 17.» Sie deutet mit dem Finger aufgeregt zum Seeufer, wo sich ein paar notdürftig aufgestellte Hauszelte befinden. «Die Angehörigen sind hier in den Zelten und warten verzweifelt, bis der Junge gefunden wird. Wir alle hoffen, dass es nicht mehr lange dauert.» – «Das tut mir leid», sage ich betroffen. Ich lasse meinen Blick über den See schweifen. «Aber Betty», sage ich, «der See ist recht klein. Wieso finden sie ihn nicht?» – «Es stimmt schon. Der See ist klein. Aber er ist auch sehr tief. Und irgendwie herrschen spezielle Druckverhältnisse, die das Tauchen erschweren. So genau weiss ich es auch nicht.» Ich seufze, und da ich keine Lust habe, bei einem Bad oder einem Spaziergang am See eine Leiche zu entdecken, frage ich Betty: «Kannst du mir ein Fahrrad ausleihen? Dann fahre ich zum Blue Lake, um da zu schwimmen.»
In den nächsten zwei Tagen radle ich zu einigen Seen in der Umgebung. Sie alle sind eingebettet in wilden, von Farnen durchzogenen Wäldern. Zurück im Backpackers geniesse ich die geräumige Küche und den Gartensitzplatz. Doch immer wieder schaue ich zu den Zelten am See hinunter. Ständig kommen und gehen Autos mit Maori, die den Angehörigen Essen bringen, mit ihnen am See sitzen, sie trösten und umarmen. Die Taucher haben den Jungen immer noch nicht gefunden. Die Stimmung im Ort ist bedrückt, und die Ungewissheit lastet auf allen. In solchen Momenten wird man gezwungen, sich Gedanken über den Tod zu machen, denke ich und trinke einen Schluck kühlen Pfefferminztee. Wie geht es wohl dem Freund des Verunfallten? Es muss schrecklich sein, mit dieser Last weiterzuleben. So schnell kann sich im Leben alles ändern. Ich überlege, ob ich Betty aufsuchen soll, um zu reden. Aber was soll das bringen? Lieber drehe ich eine Runde im Wald.
Die hohen Bäume mit ihren dicken, rotschimmernden Stämmen strahlen eine besondere Kraft und eine fast spürbare Präsenz aus. Verschiedene Bike- und Wanderwege verlaufen durch den Wald. Ich lausche dem gleichmässigen Surren der Räder, dem Wind an meinen Ohren und in den Bäumen, atme die frische, nach Moos und Erde duftende Luft ein und fühle mich geborgen. Je ruhiger meine Gedanken werden, desto mehr breitet sich eine tiefe Freude in mir aus. Ich spüre ihr nach und merke, dass es die unbändige Freude darüber ist, am Leben zu sein.
Am nächsten Morgen, als die Navy ankommt, bricht Aufregung aus im Dorf. Zwei mobile Dekompressionskammern und drei Boote mit weiteren Tauchern und Experten werden zum See gebracht. Betty sagt, wenn sie den Jungen in den nächsten zwei Tagen nicht finden, bleibt der See für sechs Wochen gesperrt, weil es sein kann, dass in dieser Zeit der Körper doch noch auftaucht.
Es dauert noch einen weiteren Tag, bis sich endlich die Nachricht herumspricht, auf die wir alle gewartet haben: Sie haben den toten Jungen gefunden. Betty kommt in die Küche gestürzt, zieht mich ungestüm am Ärmel in den Garten hinaus und flüstert mir zu: «Komm, was jetzt passiert, musst du sehen.» Wir stellen uns an den Rand der Wiese und blicken hinunter zum Ufer. Immer mehr Maori kommen mit Jeeps und anderen grossen Autos an und strömen zum Seeufer. Der Häuptling, mit einer weissen Feder im Haar und einem hellen Anzug bekleidet, versammelt die Angehörigen am Ufer. Einige Maori sind in traditioneller Kleidung gekommen, nur mit einem Schilfrock um die Hüften. Ihre nackten Oberkörper glänzen goldbraun in der Sonne und zeigen die Tätowierungen, die auf Armen, am Hals und im Gesicht schwarz schimmern. Taucher der Navy kommen mit einem Boot ans Ufer und legen einen schwarzen Sack sorgfältig auf eine Bahre und tragen ihn über den Steg zum Häuptling. Dort stellen sie die Bahre ab und reihen sich links und rechts davon stramm auf. Einer der Taucher, vermutlich der Einsatzleiter, lässt von einem Angehörigen einen Zettel unterschreiben. Die Soldaten salutieren mit ernster Miene und kehren dann zu den Booten zurück, wo sie routiniert mit den Aufräumarbeiten beginnen.
Der Häuptling beugt sich über den Sack, schaut hinein, schliesst ihn und macht besondere Handbewegungen darüber, als würde er etwas in die Luft zeichnen. Er tritt zurück, und sofort wird die Bahre mit dem Jungen in die Mitte der versammelten Menschen getragen. Der Häuptling stösst einen langen Schrei aus, der durch Mark und Bein geht, worauf die Männer in den vorderen Reihen und die Frauen hinter ihnen den rituellen Haka, den Tanz, beginnen. Sie stampfen mit den Füssen auf den Boden, schlagen sich mit den Handflächen auf Oberschenkel und Brust, brüllen, sperren die Augen weit auf und strecken die Zunge heraus. Ihr Sprechchor ist rhythmisch und hallt von den umliegenden Hügeln zurück. Ich sehe fasziniert und überwältigt zu. Alle Härchen an meinem Körper stellen sich auf. Ich habe den Haka bereits mehrere Male gesehen, vor einem Rugbyspiel der neuseeländischen Mannschaft «All Blacks» zum Beispiel oder in einer touristischen Vorführung. Aber dieser Haka löst etwas total anderes in mir aus. Er ist echt, nicht gespielt. Getragen und durchwoben von wahren, akuten Emotionen. Alle Beteiligten legen ihren Schmerz und ihre Verzweiflung in die Worte und drücken ihren Respekt für den Verstorbenen in den Tanzbewegungen aus. Der Sprechgesang schwillt immer lauter an, bis er mit einem letzten, herzzerreissenden Schrei aus allen Mündern endet. Stille legt sich wie eine schützende, schwere Decke über alles.
Ich merke, dass Betty meine Hand umklammert. Einen langen Moment scheint die Welt stillzustehen. Nur langsam kommt Bewegung in die Menschenmenge. Betty schaut mich kurz an, lächelt verlegen und lässt meine Hand los. Wir beobachten, wie der Häuptling zum See geht und sich vorne auf den Steg stellt. «Er spricht jetzt die Gebete für den See», flüstert mir Betty zu. «Damit das Wasser frei von der Seele des Jungen wird. Er segnet den See und öffnet ihn erneut für alle Menschen, damit sie Freude und Glück mit ihm erleben können.» – «Ein wunderschöner Brauch», sage ich gerührt. Es ist schön, zu sehen, wie die Maori ihre alten Rituale in die heutige Zeit retten konnten. Ich spüre ihre innige Verbundenheit mit der Natur. Es scheint mir, als würden der See und die umliegenden Hügel und alle Tiere und Menschen in der Nähe erleichtert aufatmen, während der Gesang des Häuptlings übers Wasser schwebt.
Betty erklärt mir, dass die Umgebung von Rotorua hauptsächlich den Maori gehört. «Sie hüten ihr Land nach wie vor gut, lassen nicht zu, dass es verbaut wird. Ich bewundere sie, leben sie doch trotzdem so modern wie du und ich.» Die Menschen am See haben in der Zwischenzeit die Bahre in ein Auto geladen und fahren nacheinander weg. Auch die Navy zieht langsam ab, und das Ufer ist bald menschenleer.
«Wo gehen die Maori jetzt hin?», frage ich Betty. «Sie fahren in ihr Gemeinschaftshaus oberhalb von Rotorua. Dort werden sie drei Tage lang zusammen um den Toten sitzen und verschiedene Lieder singen. Solche, die sie zum Weinen bringen, und andere, die das Lachen fördern. Nach diesen Tagen werden sie sich ganz leer fühlen.»
Diese Kultur ist so anders als die unsrige, denke ich mir. Bei uns wollen die meisten Menschen alleine sein mit ihrer Trauer oder getrauen sich nicht, sie zu zeigen. Sie setzen sich eine dunkle Sonnenbrille auf, damit niemand ihre Tränen sieht. Wäre es nicht natürlicher, gemeinsam zu weinen, wie es die Maori tun?
Ich löse mich aus meinen Gedanken und merke, dass ich weiche Knie habe. Betty steht neben mir, ins Leere starrend. Sanft lege ich ihr die Hand auf die Schulter und sage: «Komm, wir setzen uns auf die Terrasse. Darf ich dir einen Kaffee anbieten?» – «Gerne», sagt sie, während wir uns vom Geschehen am See lösen und zum Haus schlendern. Mit einem Lächeln bemerkt sie: «Das ist mir ja noch nie passiert, dass ich in meinem eigenen Haus zum Kaffee eingeladen werde.»