Sich treiben lassen

Wer vor der Westküste Schwedens kajaken geht, tüftelt besser keine genaue Route aus  sondern folgt einfach seinen Launen, im Paddelrevier für Müssiggänger.

Ausgabe: Online Text: Florian Sanktjohanser und Bilder: Fabian Weiss 

Die Herrscher von Lökholmen erwarten uns am Strand. In einer weiten Bucht stehen sie aufgereiht da: ein halbes Dutzend Wildpferde. Wir hören auf zu paddeln, treiben stumm näher. Die stolzen Tiere schauen kurz herüber, dann grasen sie ungerührt weiter. Selbst als unsere Kajaks neben ihnen auf dem Kies knirschen, fliehen sie nicht – sondern kommen näher. Und dann unheimlich nah.

Ein Pferd schnuppert an Fabians Kajak, ein anderes legt ihm den Kopf auf die Schulter. Alles witzig anzuschauen. Aber als ein stattlicher Rappe schnaubend auf mich zu trottet, flüchte ich die Felsen hinauf – wo sich ein herrlicher Rundblick über die Inselwelt öffnet, der jedes bedrohliche Getier vergessen lässt.

«Der schönste Schärengarten der Welt», hatte ich zu Hause über den Archipel von Bohuslän gelesen, «ein Paradies für Kajaker». 8000 Inseln drängen sich hier zwischen Göteborg und der norwegischen Grenze. Ein grandioses Labyrinth, in dem Fotograf Fabian und ich uns drei Tage verlieren dürfen.

Vom Urlaubsort Grebbestad wollen wir ins noch berühmtere Fjällbacka paddeln und dann wieder zurück. Luftlinie seien das one-way nur zehn Kilometer, sagt Marcus Holgersson. «Aber es ergibt keinen Sinn, sich zu hetzen und schnell irgendein Ziel anzusteuern. Alle Inseln hier sind schön.»

Marcus spricht ausgezeichnet Englisch und lacht viel, während er uns die Seekajaks zeigt und mit allem Nötigen ausstattet. Der 48-Jährige zog mit seiner Frau Ingela und den beiden Kindern aus Göteborg hierher, seit 2011 verleiht er Boote und bietet geführte Touren an.

Der Archipel sei ideal für Seekajak-Anfänger, sagt er. «Die Inseln liegen hier sehr nah an der Küste, man kann sie immer als Windschild nutzen.» Und: «Wir sind hier nahe am Südende des Meeresnationalparks Kosterhavet.» Wir dürfen uns also auf pralles Leben freuen, über und unter Wasser.

Marcus passt die Fusspedale für die Heckruder an, dann gibt er uns Neoprenschuhe, Spritzschutz und Schwimmwesten, dazu ein Säckchen mit Toilettenpapier, eine Schaufel – und natürlich die Seekarte.

Die schwarze Linie zeige den Meeres-Highway an, sagt er. «Am Freitag kommen dort alle Norweger mit ihren Booten runter, und am Sonntag fahren sie zurück. Im Kajak wollt ihr da definitiv nicht auf Kollisionskurs sein.» Am besten paddle man ohnehin im seichten Wasser nahe den Inseln.

Welche Eilande sich zum Zelten eignen, hat Marcus fürsorglich eingezeichnet. Auf ein paar Inseln hat er mit seiner Organisation «Hållbar Skärgård»– zu Deutsch: nachhaltiger Archipel – sogar fünf Komposttoiletten aufgestellt. «Jedes Jahr kommen mehr Leute hier in die Wildnis», erklärt er, «und manche Neulinge gehen für ihr Geschäft einfach um die Ecke.»

Das Umpacken in Trockensäcke und das Verstauen in den Fächern an Bug und Heck dauert eine Weile. Endlich beladen, sind die Kajaks schwer wie Sofas. Aber zum Glück müssen wir sie nur ein paar Meter über den Kiesstrand schleppen.

Das erste Einsteigen gelingt ohne blamables Kentern, das Meer ist glatt wie ein Badesee. Bedächtig steuern wir unsere Kajaks zwischen den ersten Inselchen hindurch, auf deren rund geschliffenen Felsufern blutrote Fischerhütten stehen. Zwei Stehpaddlerinnen gleiten entspannt vorbei. Nervenaufreibend scheint die Tour auf der wilden Nordsee nicht zu werden.

Schnell pendelt sich unser Paddelschlag auf ein entspanntes Gleichmass ein. Das Meer ist tiefblau, im klaren Wasser pulsieren rosafarbene Quallen wie Geisterpilze vorbei.

Schweigend paddeln wir entlang der Westküste von Pinnö südwärts. Die kargen Felsinseln erinnern ein wenig an Griechenland – nur dass hier vereinzelte Heideteppiche lilafarben blühen.

Immer wieder muss ich die Karte aus der Plastikhülle ziehen. Ist das da vorne eine Bucht oder ein Meeresarm? Und was ist welche Insel?

Ohne Smartphone und GPS würden wir Leichtmatrosen uns ständig verirren. Was aber egal wäre. Denn wie sagte Marcus so zutreffend? Schön ist es hier überall.

Zeit für eine Pause

Ich steuere mein Kajak auf eine Felsplatte zu, wuchte mich aus dem Sitz – und rutsche hüfttief ins Wasser. Das erste Landemanöver endet mit Umherstaksen im Algendickicht.

Aber egal, das Meer ist badewarm und die Taucherbrille griffbereit. Über einen Urwald aus grünen und braunen Algen schnorchle ich dahin, ab und an leuchtet dazwischen ein Seestern.

In einer Kiesbucht an der Westküste des Inselchens Pinnö fällt der Landgang wesentlich leichter – weshalb allerdings schon mehrere Motorboote vor Anker liegen. Ihre Besitzer fläzen sich in Liegestühlen am Strand, uns genügen die rund geschmirgelten Felsbänke, die von der Sonne erwärmt sind.

Über sanft gekräuselte, glitzernde See paddeln wir weiter, hinaus zum Leuchtturm von Stångeskär und in einen Minifjord an der Südwestspitze von Otterön. Als wir nahe an den im Abendlicht glühenden Felsen vorbei gleiten, sehen wir orange-gelbe Kringel wie prähistorische Malereien: die Algen-Graffiti von Mutter Natur.

Für die erste Nacht hat uns Marcus die nahe Insel Stora Måkholmen empfohlen. Das Gras hier ist eine wunderbare Unterlage für die Zelte, in einer Mulde zwischen Felsen logiert bereits eine grauhaarige Solo-Kajakerin. Und daneben hat ein Geduldiger konzentrische Kreise aus Steinen auf die Wiese gelegt. Wohl eher ein Paddler mit viel Zeit als ein Steinzeitler.

Es lohnt sich offenbar, Marcus› Empfehlungen zu folgen. Besonders seiner wichtigsten: Lasst euch treiben. Und so folgen wir am nächsten Morgen einfach unserer Lust und Laune, kreuz und quer durchs bezaubernde Labyrinth.

Durch ein Nadelöhr zwischen Felsen paddeln wir in eine Lagune, wo drei Segelboote ankern. Fische springen übers tiefe Blau, ein Seehund streckt seinen Kopf aus dem Wasser und späht umher. Graugänse flattern kreischend auf, ein Reiher startet mit seinen langen Schwingen durch. Auf manchen Felsen liegen die Schalen von Austern. Möwen haben sie im Flug fallen gelassen, um ihre Schalen aufzubrechen.

Auf Stora Brattholmen verführt uns eine tief eingeschnittene Sandbucht zum Landen. Gleich hinter dem Strand steht eine der Komposttoiletten, betrieben von einer Solarfassade. Über die abgerundeten Felsen laufen wir im Zickzack zwischen Heidepolstern bergauf, ein kindlicher Entdeckerspass. Oben, auf der höchsten Kuppe, ist der Rundumblick über Inseln, Meerengen und die weite Nordsee zum Niedersinken schön.

Angefixt von der kleinen Kraxelei, queren wir im Kajak hinüber nach Otterön. Die grosse Insel ist ein Naturschutzgebiet, wo Mufflons grasen. Und laut unserer Karte gibt es dort mehrere Wanderwege.

Vom Strand spazieren wir den Wald hinauf. Vergilbte Farne wachsen aus der Heide, das Grün der Birken und Vogelbeeren tut gut nach all dem blanken Fels. Im winzigen Dorf polstert dichter Rasen die Pfade zwischen den Holzhäusern. Kein Mensch ist zu sehen.

Adieu Abgeschiedenheit

Wir werden die Stille bald vermissen. Unsere nächste Haltestelle heisst Fjällbacka und ist nicht zu verpassen. Wir müssen nur Kurs halten auf das monströse Kreuzfahrtschiff, das die flachen Inselchen überragt.

Bald paddeln wir im stressigen Bootsverkehr des Highways, schaukeln im Kreuzfeuer der Bugwellen auf eine steil aufragende Häuserfront unter Tafelbergen zu. Von einem Boot plärrt 90er-Pop, auf dem Marktplatz am Kai dudeln Musiker, es klingt wie der Soundtrack zum Film «Braveheart».

Das Anlegen an der einschüchternd hohen Kaimauer ist kniffliger als erhofft, kleinlaut betteln wir am Ponton des örtlichen Kajakverleihs, kurz festmachen zu dürfen. Mürrisch winkt uns der blonde Sunnyboy durch.

Im Restaurant eine Etage darüber stossen Kreuzfahrer mit Sekt an, der Cappuccino und die Schokokugeln schmecken sagenhaft gut. Eingelullt von der Entspanntheit sitzen wir lange genug, bis Verkehr und Wellen abgeflaut sind.

Goodbye Fjällbacka

Mit frischer Energie geht es weiter, vorbei an Porsholmen mit seinem Sandbuchten und hinüber nach Dannholmen, wo eine Bronzetaube auf den Klippen ihre Flügel ausbreitet. Im Haus dahinter lebte einst Ingrid Bergman. Von 1959 bis 1983 verbrachte die Schauspielerin ihre Sommer auf dem Inselchen. Viele Prominente besuchten sie hier, anfangs fuhren mehrmals pro Tag Schaulustige im Boot zum Haus der Weltberühmten hinaus. Aber bald hatte auch Bergman ihre Ruhe. So wie wir.

Längst haben wir den Trubel von Fjällbacka hinter uns gelassen und sind wieder allein hier draussen. In der gleissenden Glitzerbahn der tief stehenden Sonne tauchen vor uns zwei dunkle Buckel auf, wieder und wieder. Kann das sein, Delfine so weit im Norden?

«Das sind Schweinswale», sagt Jesper Lindqvist. Der Mittvierziger mit Rauschebart hat in einer kleinen Bucht im Süden Lökholmens sein Zelt aufgeschlagen. Seit drei Wochen sei er im Kajak unterwegs, erzählt er. Ein Kurztrip für den Vollzeit-Abenteurer.

Acht Jahre lebte Lindqvist auf einem Segelboot und im Campervan, einmal ist er 1700 Kilometer zur finnischen Grenze geradelt und zurück gepaddelt, ein anderes Mal zog er sein Kajak zu Fuss 100 Kilometer landeinwärts, um dort durch Flüsse und Seen zu fahren.

Wie er dieses Revier im Vergleich zu anderen in Schweden findet? «Es ist das Beste», sagt Linqvist. «Ich paddle hier das ganze Jahr, die Sonnenuntergänge sind fantastisch. Und weiter im Norden im Koster Nationalpark ist das Wasser noch klarer, grandios zum Freitauchen.» Klar, im Juli sei es hier überlaufen und laut. «Aber diese Woche bin ich hier den ganzen Tag nackt rumgelaufen und habe tagelang niemanden gesehen.» Ausser Walen und Pferden natürlich.

Über den Autor

Florian Sanktjohanser wohnt am Ammersee bei München und schreibt am liebsten über Naturschätze. In Schweden sass er nicht nur im Kajak, sondern wanderte auch auf dem neu eröffneten Stockholm Archipelago Trail.

Über den Fotografen

Fabian Weiss lebt und arbeitet als Reise- und Reportagefotograf in Wien. Für das beste Licht vermisst er manchmal die langen Sommertage der ehemaligen Wahlheimat Estland, ist aber mit den etwas späteren Sonnenaufgängen in den Alpen dann doch ganz zufrieden.

Fabian Weiss

Abonniere jetzt das Globetrotter-Magazin und lies weitere einzigartige Geschichten. Das Reisemagazin für Weltentdecker viermal pro Jahr im Briefkasten für nur CHF 40.–.

«Das Reisemagazin für Weltentdecker – seit 1982»

«Das Reisemagazin für Weltentdecker – seit 1982»

Diese Reportage teilen: