Waschbären und Weltstädte

 

Besorgt schaue ich an mir herab. Ich sitze bis zu den Knien im Wasser. Bei jedem Paddelschlag schmatzt mein T-Shirt vor Nässe, und noch immer rollen Brecher heran. Der Wind bläst mir mit 30 Stundenkilometern entgegen, als wolle er mich schon an meinem ersten Paddeltag von meinem Vorhaben abbringen: 400 Kilometer auf Wasserwegen durch Ostkanada – von Kingston über Ottawa bis Montreal.

Acht Stunden mühe ich mich ab, bis ich einigermassen entkräftet mein Zelt an einer Schleuse am Rideau Canal aufstelle. Kaum öffne ich am folgenden Morgen die Augen, höre ich die feixenden Stimmen von jungen Männern, die ihre Kajaks zu Wasser lassen. Rasch packe ich meine Habseligkeiten, klettere in mein Gefährt und paddle los, um die acht kräftigen Jungs einzuholen. Eine Viertelstunde später blicke ich in überraschte Gesichter.

«Wollt Ihr auch nach Ottawa?», frage ich. «Ja, in drei Tagen sind wir dort. Wir paddeln von 5 Uhr morgens bis Mitternacht, 19 Stunden. Vier Stunden schlafen wir. Die übrige Stunde verbringen wir damit, unsere Zelte auf- und abzubauen», entgegnen sie. Ich sage: «Klingt nach einer Menge Spass!»

Ich schliesse mich den Jungs an. Tagsüber scherzen wir und erzählen uns unsere Geschichten. Meine Mitstreiter sind 15 bis 30 Jahre jünger als ich und fragen mich mehrmals täglich, wie es sein kann, dass ich noch immer mithalte, während drei von ihnen die Tour abbrechen mussten. Kajakfahren gehört zu den natürlichsten Arten, sich fortzubewegen. Jahrtausendelang haben die First Nations die Ufer auf diese Weise erforscht. Die Kraft für den Vorwärtsschub holt man aus dem gesamten Körper. So kann ich tagelang fahren, ohne dass mein Körper allzu nachdrücklich dagegen rebelliert.

In der Dämmerung bricht der Wind ein, das sind die schönsten Stunden meiner Reise. Um mich herum die Geräusche des Flusses und seiner Bewohner. Darunter sind viele, die ich in Kanada nicht erwartet habe: Schlangen zum Beispiel oder Schnappschildkröten. Das Mondlicht tanzt auf den Wellen. Ich bin angekommen und alles ist leicht und friedlich. Am dritten Tag hat der Wind ein Einsehen, er zieht ab.

Der 202 Kilometer lange Rideau Canal wurde 1832 eröffnet und verbindet seither Kanadas Hauptstadt Ottawa und das Städtchen Kingston. Er bietet uns einen Wechsel aus schlauchartigen Passagen und seeähnlichen Abschnitten, immer wieder unterbrochen von Gehöften und Dörfern. Wir sehen Reiher und Kormorane, zuweilen auch Waschbären, Hirsche und Weisskopfseeadler.

Kurz bevor wir Ottawa erreichen, ziehen feine Wolkenstreifen am Himmel auf. Erleichtert nehmen wir sie zur Kenntnis – bis sie sich zu bauschigen Knäueln vereinen, die immer dunkler werden. Binnen einer Stunde fällt das Thermometer von 35 auf 9 Grad. Schon zucken erste Blitze herab. Keine fünf Minuten später sind wir durchnässt. Als immer weniger Sekunden zwischen Blitz und Donner verbleiben, retten wir uns an Land und suchen Schutz unter dem Dach eines Hauses, deren Besitzerin selbst Kajakfahrerin ist. Noch ehe wir ihren Kaffee annehmen können, ist der Spuk vorbei.

Was folgt, ist ein sehr kanadischer Tagesausklang: Als wäre die vergangene Stunde nur ein Scherz gewesen, kredenzt uns die Sonne eine beinahe schon kitschig schöne Einfahrt in Ottawa. Je näher wir der Metropole kommen, desto vorzeigbarer werden die Häuser an den Ufern. Im Stadtgebiet sind es bereits Paläste. Jachten und Sportboote stehen davor, nicht selten auch Wasserflugzeuge.

Zwei Tage später bin ich wieder alleine unterwegs und lasse meinen Kajak erneut zu Wasser, dann geht es 25 Meter abwärts, durch die acht Schleusenbecken Ottawas in den gleichnamigen Fluss. Die beidseitig der Schleuse aufgereihten Touristen können ihr Glück kaum fassen; emsig fotografieren sie mich unter ständigen Beteuerungen, dass sie selbst eine solche Reise niemals unternehmen würden. Wirklich: niemals!

Kurz darauf umtänzeln mich die Wellen des Ottawa River, was hauptsächlich an der motorisierten Konkurrenz liegt. Sportboote, Jetskis und Jachten reklamieren die Flussmitte für sich. Mir bleibt der Uferbereich, was mir recht ist. Linkerhand erstreckt sich Kanadas grösste Provinz Québec. Was das beutetet, wird mir auf dem Campingplatz klar. Weder Französisch noch Englisch helfen mir, das Québécois zu verstehen.

Die Etappe nach Montebello ist lang und meine Vorräte gehen zur Neige. Als ich endlich in dem kleinen Ort ankomme, erwartet mich eine böse Überraschung: Das Hostel, das ich gebucht habe, befände sich nicht hier, erklärt mir eine resolute Frau, sondern in Lefaivre, weiter flussabwärts am gegenüberliegenden Ufer. Mit einer unbestimmten Handbewegung zeigt sie hinaus in den Abend. In diesem Land ist alles auf Autofahrer ausgelegt: die Infrastruktur ebenso wie die Entfernungen. Für jemanden wie mich aber, der bereits 16 Stunden Kajak gefahren ist und beinahe nichts im Magen hat, sind ein paar Zusatzkilometer eine grosse Anstrengung.

Ich weiss nicht, wer meinen Kajak nach Lefaivre fährt. Ich paddle mechanisch und stur. Irgendwann merke ich, wie sehr ich das alles geniesse. Alle Anstrengung ist verflogen. Ich bin reiner Wille geworden, pures Vorwärtskommen. Ein irres Hochgefühl breitet sich in mir aus.

Im Nachhinein betrachtet war das vermutlich der gefährlichste Moment meiner Reise. Dehydriert und von Adrenalin durchflutet, wäre ich wohl noch weitergefahren, hätte mich am Ende des Städtchens nicht der Besitzer des Hostels abgepasst. Die Frau, der ich in Montebello begegnet bin, habe ihn darüber informiert, dass ein sonnenverbrannter Bärtling in der Dämmerung mit einem Kajak zu ihm unterwegs sei, schmunzelt er.

Ein Restaurant gebe es hier zwar nicht, sagt mir ein junger Mann im Dorf L’Orignal am nächsten Vormittag, dafür aber immerhin eine Tankstelle, die… «Danke!», rufe ich und bin schon unterwegs. Nach dem gestrigen Tag habe ich wirklich Hunger. Ich kaufe ein gummiartiges Brot, zwei Salamis, eine Tafel Schokolade, einen Kakao, zwei Müsliriegel und drei Liter Wasser. Unter den erstaunten Blicken der Dorfjugend verschlinge ich alles direkt vor der Tankstelle. Anschliessend folge ich einer langgezogenen Kurve bis zum Städtchen Hawkesbury, wo ich alles wiederhole. Die Leute beider Orte werden mich vermutlich in Erinnerung behalten.

Gestärkt fahre ich weiter, bis mir ein Hindernis den Weg versperrt: die Schleuse von Carillon, die bereits den Grossraum Montreal ankündigt. Der Schleusenmeister lässt mich erst hineinfahren, als zwei weitaus grössere Schiffe hinter mir auftauchen. Obwohl sie vertäut sind, müssen die Kapitäne hin und wieder gegensteuern. Dann strömt Wasser zu mir, das mich ganz schön herumwirbelt. Ich bin froh, als wir eine halbe Stunde später die Schleuse verlassen.

Am folgenden Morgen fahre ich unter der Autoroute du Souvenir hindurch und habe plötzlich das Gefühl, in einen Ozean gelangt zu sein. Hier ergiesst sich der Ottawa River in den mächtigen Sankt-Lorenz-Strom. Alles weitet sich; zu meiner Rechten mache ich das Ufer als dunklen Streifen aus. Wo sich der Parc René Levesque erstreckt, scheint Montreal die Arme zu öffnen, um mich zu empfangen. Wehmütig schaue ich auf die Spitze meines Kajaks, die sich bei jedem Paddelschlag leicht hin und her bewegt. Zwei Wochen lang hat es mich durch Dick und Dünn getragen.

Der Lachine-Kanal bringt mich schliesslich zum alten Hafen, mitten hinein ins Herz der Stadt. Hier klettere ich an Land. Ein letztes Mal blicke ich zurück, dann schultere ich meinen Seesack und werde zu einem Fussgänger unter vielen.

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