Blutige Bestattungszeremonie
Ohne dass ich ihn bestellt habe, erwartet mich Gibson vor dem kleinen Flughafen von Rantepao im Süden der indonesischen Insel Sulawesi – und bietet mir seine Dienste an. Ich solle ihn doch bitte engagieren. Er habe während der gesamten Corona-Zeit keinerlei Arbeit mehr als Guide gehabt, zum Teil sogar hungern müssen. Ich habe Mitleid – der Beginn eines Abenteuers der besonderen Art. Nur kurze Zeit später werde ich Zeugin einer Bestattungszeremonie der Toraja, die ich so schnell nicht vergessen werde.
Die vielen um ihr Leben quiekenden schwarzen Schweine, die – rittlings an Bambusstangen gebunden – von schwarz gekleideten Jünglingen zum Zeremoniengrund getragen werden und die schwarzen Wasserbüffel, die mit Nasenringen an Stangen angebunden sind, lassen erahnen, dass hier bald viel Blut fliessen wird.
Die Frau, die zu Grabe getragen wird, ist im hohen Alter von 80 Jahren gestorben. Sie entstammte einem Haushalt der Mittelschicht und lebte bis vor kurzem in dem Haus, vor dem Gibson und ich gerade Kaffee trinken, während wir das Treiben rund um das rote «Sarghäuschen» mit seinem riesigem Bootsdach beobachten.
Gestorben ist sie bereits vor fast einem Jahr, doch verbrachte sie – mit Formaldehyd konserviert – die vergangenen Monate weiterhin inmitten ihrer Angehörigen, schlief neben ihnen, ass mit ihnen. «Sie sprachen täglich mit ihr wie mit einer Lebenden und kümmerten sich um sie, als sei sie weiterhin nur krank», erzählt mir Gibson. Für die Toraja ist eine Person erst dann tot, wenn sie die Zeremonie durchlaufen hat, deren Zeugin ich heute werde.
Wir haben Geld gespendet. Andere Gäste bringen Zigaretten, Betelnüsse, Palmwein oder Schweine mit. Nun defilieren – begleitet von Gongschlägen – Männer mit Bambusstangen, von denen weisse Wimpel hängen, um das Sarghäuschen. Es sind 13 Wimpel. So weiss Gibson, dass für die Tote in den kommenden drei Tagen insgesamt 13 Büffel geopfert werden. Eine mittlere Anzahl, wie sie typisch für Bestattungszeremonien der Mittelklasse ist. Bedenkt man, dass die teuersten Wasserbüffel auf dem Wasserbüffelmarkt in Rantepao umgerechnet mehr als 30 000 Euro kosten, so kann jede Bestattungszeremonie eine Familie in Toraja in den finanziellen Ruin treiben.
Heute, am ersten Tag, wird nur ein Büffel getötet. Ihm kommt die Ehre zu, Träger für die Seele der verstorbenen Person zu sein. Die anderen Opfertiere ziehen junge Männer an Nasenringen hinter den Bambusstangenträgern und einem Gongträger im Kreis um den Leichnam im Sarghäuschen.
Vor dem Mittagessen betet eine Frau ein christliches Gebet. Weit mehr als die Hälfte aller Toraja sollen nominell Christen, vor allem Protestanten sein. Dann kommen erneut zahlreiche Gäste. In Schwarz gekleidet oder – vor allem die kleinen Kinder – in der leuchtend roten Tracht der Toraja. 300 Familienmitglieder sind für die heutige Zeremonie zusammengekommen. «Viele von weit her, zum Teil sogar aus dem Ausland», erfahre ich von Gibson. Auch das Fernsehen ist hier. Ich werde um ein kurzes Statement in Englisch, Deutsch und Toraja gebeten. Dann gibt es Reis und Schweinefleisch zu essen.
Nach dem Mittagessen beginnt das für westliche Augen grausige Ritual, bei dem Leben gegen Leben ausgetauscht wird. Nachdem noch ein paar weitere Schweine zur Exekution abtransportiert wurden wird der einzige Büffel in die Mitte des Platzes neben den Sarg geführt. «Austausch» ist hier wörtlich zu verstehen: Im Glauben der Toraja ist der Leichnam im Sarg erst in dem Moment tot, in dem der Büffel tot ist. In diesem Moment kriecht nämlich die Seele der Toten durch ein Bambusrohr in das für die Toraja heilige Tier.
Kaum habe ich mich versehen, hat einer der Schlächter dem Wasserbüffel auch schon ein Messer tief in den Hals gerammt, blitzschnell die Halsschlagader durchtrennend. Zum ersten Mal höre ich nun auch einen Büffel schreien. Er schlägt so sehr um sich, dass ich mit meinem Handy fliehe. Rot schiesst das Blut aus ihm heraus. Er zuckt noch einige Minuten. Dann ist sein Leben verhaucht. Die Schlächter häuten das Tier und entnehmen ihm die Eingeweide. Nach dem Glauben der Toraja übernimmt der Büffel eine würdevolle Aufgabe: Er bringt die Seele der Verstorbenen ins Paradies.
Im Anschluss kommt eines der vor Todesangst furchtbar quiekenden schwarzen Schweine unters Messer. Hier genügt allerdings nicht ein einzelner Messerstich, sondern es bedarf mehrerer Schnitte, bis das Tier nicht mehr zuckt. Dann wird die Haut mit Feuer geflämmt, bis sie schwarz verbrannt ist und sich abziehen lässt, ehe das Schwein ausgenommen wird. Einer der Schlächter wirft die Innereien zwischen die anderen wehrlos an Bambusstecken gefesselten und quiekenden Schweine. Immer wieder schreien sie entsetzlich in Vorahnung dessen, was sie gleich selbst ereilen wird.
Die Tiere tun mir furchtbar leid! Dahingegen schauen selbst die Kinder der Toraja dem Schauspiel völlig ungerührt zu. Erst hier wird mir bewusst, dass ich – ähnlich vieler westlichen Menschen – niemals erlebt habe, wie ein Tier geschlachtet wurde.
Nun wird das rote, bootsförmige Dach des Sarges von mehreren Jünglingen abgehoben und der Sarg unter lautem Rufen mit vereinten Kräften über eine Bambusleiter ins Dachgeschoss gehoben. Dort wird der Leichnam noch drei Tage ruhen, bis man die weiteren zwölf Büffel opfern und die Tote ihrer letzten Ruhestätte, einem Steingrab auf dem Berg zuführen wird.
Jetzt ziehen die vom Zeremonienmeister angekündigten Gäste vorbei. Danach in langsamen Schritten die Angehörigen der Verstorbenen. Die Köpfe haben sie mit schwarzen Tüchern bedeckt. Sind sie traurig? «Aber nein», antwortet Gibson «Die Familie ist froh und dankbar, eine solche Zeremonie gestalten zu können, um der Verstorbenen den Zutritt zum Paradies im Süden zu sichern – in der Hoffnung, dass sie ihren Nachfahren wohlgesinnt bleibt.» Die Kinder bekommen sogar schulfrei, damit sie sehen, wie diese uralten Zeremonien vollzogen werden – und um sie später fortzuführen.
Die Seelen der Toten bringen den Nachkommen Glück und Wohlstand. Darum wendet sich auch kein Toraja von dieser Tradition ab. Von weit her, sogar aus dem Ausland, kommen die Toraja zu diesen Zeremonien zusammen. Niemals haben die grossen Religionen wie das Christentum oder der Islam ihre alten animistischen Glaubensvorstellungen ernsthaft in Frage stellen können. Alle Versuche der niederländischen Kolonialherren, diese Bestattungsbräuche zu unterbinden, waren letztlich erfolglos, auch wenn die Niederländer, so Gibson, freilich erreicht hätten, dass die Mitbestattung lebendiger Sklaven (wie früher in der Oberschicht Brauch) abgeschafft worden ist.
Von: | Andrea Keller [[email protected]] |
Gesendet: | So 18. Juni 2023 17:39 |
An: | Redaktion [[email protected]] |
Betreff: | Indonesien |

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