Exotisches Europa

Bevor ich mit meiner Freundin Franziska Streit bekomme, weil ich ihre gewünschte Reise nach London immer wieder hinausschiebe, versuche ich auf eine andere Stadt auszuweichen. Aufschub scheint nicht mehr geduldet zu sein. Ich überlege kurz. Welche Städte liegen am Meer und wo waren wir beide noch nie? «Wie wärs mit Riga?», schlage ich vor. – «Oh ja, super!»

Zwei Wochen später landen wir im sommerlichen Riga. Viel mehr, als dass Riga Lettlands Hauptstadt ist, wissen wir nicht. Da lange nicht alles auch Englisch angeschrieben ist, ist für uns alles etwas schwer verständlich: die Billetautomaten, die Speisekarten, der Zutatenbeschrieb auf Lebensmitteln in Läden und auf dem Markt, die Zugfahrpläne, die Bahnsteig-Zuweisungen und einiges mehr. Doch wir geniessen diese Exotik mitten in Europa.

In der Stadt herrscht eine spannende Mischung aus Urtümlichem und Modernem. Fast alle Frauen tragen Röcke, die Strassen sind mit Kopfsteinpflaster ausgelegt und die Autos mit Anhängerkupplungen ausgestattet. Die Mütter schieben Kinderwagen vor sich her, die wohl schon ihre Mütter in Gebrauch hatten. In der Unterführung zu den Markthallen repariert ein alter Uhrmacher meine an «Herzrhythmusstörungen» leidende Schweizer Uhr – ein Erbstück meines Vaters – in einer halben Stunde für 3 Euro. Gleichzeitig wimmelt es von elektrischen «Bolt»-Trottis, «Bolt»-Taxis und «Bolt»-Essenauslieferern. In der Innenstadt gibt es kaum mehr Lebensmittelläden, dafür ein dichtes Netz von «Narvesen»-Filialen, in denen Getränke, Zeitungen und Süsswaren erhältlich sind, aber auch ein Kaffee oder ein warmer Snack konsumiert werden kann. Es gibt auch  superleckere Sushi-Bars, exquisite Fischrestaurants und italienische Lokale.

Das Zentrum ist sehr grün, es gibt viele Parks voller kleiner Hunde mit ihren Besitzerinnen und Besitzern, Nebelkrähen, Liebespärchen und junger Mütter. Ein Kanal mit Bötchen, Enten und Springbrunnen windet sich durch die Altstadt, die weitgehend verkehrsfrei und wie die daran angrenzenden Viertel mit wunderschönen Häusern vergangener Epochen gespickt ist – ein Eldorado für Architekten und Kunsthistoriker.

Alles ist sehr gemütlich. Die Einheimischen, die rumpelnden Busse und Trams, die Bedienung in den Restaurants, das Personal in den Läden und auf dem riesigen Markt hinter dem Bahnhof. Dort, zwischen zwei Markthallen sprudelt ein ganz besonderer Quell: In einer Menschentraube verbirgt sich ein Holzfass, aus dem eine junge Frau «Kvass» zapft, das Nationalgetränk der Letten, ein bierähnliches, alkoholfreies Malzgetränk.

Ohne die Hilfsbereitschaft von Mitreisenden wäre es uns nie gelungen, mit dem Zug an den nahen Strand des Stadtviertels Vecāķi zu finden. Denn der Zug fährt weder zur angekündigten Zeit noch auf dem angegebenen Gleis. Aber mal am Meer angelangt, bleibt es entspannt. Es hat keine Motorboote hier, keine Surfer, nicht mal Luftmatratzen oder Sonnenschirme sehen wir. Die einzige etwas dynamischere Szenerie besteht aus Kindern, die auf den Sandbänken die allgegenwärtigen Nebelkrähen aufscheuchen. Die Menschen gehen eben einfach nur – baden. Wozu ein Strand ja eigentlich da ist.

Vom Fenster unseres Hotels im Jugendstilviertel aus sehen wir seit unserer Ankunft etwa 100 Meter entfernt, Tag und Nacht mehrere Blaulichter blinken. Jetzt wollen wir der Sache auf den Grund gehen, umso mehr, weil ich ein Sushi darauf gewettet habe, dass es sich um Polizeiautos handelt. Als wir uns dem «Tatort» nähern, sehen wir, dass dort die ukrainische Botschaft liegt – gleich neben der russischen Botschaft!

Das Erstaunen über den Zufall, dass die beiden Kriegsparteien hier direkt benachbart residieren, dreht sich nach einigen Sekunden des Nachdenkens in Selbstverständnis. Warum auch nicht? Beide waren ja bis vor nicht allzu langer Zeit sowjetische Bruderrepubliken. Jetzt hat sich das Bild natürlich radikal geändert. Das Gelände der ukrainischen Botschaft ist in ein Gesamtkunstwerk umgewandelt, das die Gräueltaten der russischen Armee anprangert: Am Zaun hängen grossformatige Fotos der russischen Kriegsverbrechen bei Kiew, an der seitlichen Hausfront, die der russischen Vertretung zugewandt ist, prangt ein fast zehn Meter hohes Porträt mit Totenkopfgebiss, eindeutig mit den Gesichtszügen Putins.

Es muss für das russische Botschaftspersonal ziemlich anstrengend sein, ständig auf den Putin-Zombie und dessen Zerstörungswerk zu blicken, wenn es einen Blick aus dem Fenster wirft, oder in der Sommerhitze sogar ein bisschen Luft schnappen will.

Und es gibt kein Ausweichen. Auch die Sicht aus den Fenstern der Boulevardseite auf den öffentlichen Park auf der anderen Strassenseite ist von Mahnmalen der Kriegsgräuel verstellt. Als Skulpturen lebensecht nachgebaute Wohnungen von ukrainischen Kriegsopfern, wie sie sich nach einem Raketenangriff der Russen präsentieren, eine Wäscheleine mit blutigen Kleidern, und und und… Das russische Hauptquartier ist von drei Seiten mit Anti-Putin- und Anti-Kriegs-Botschaften umzingelt.

Was dem Ganzen eine zusätzliche Sprengkraft verleiht, ist nicht nur, dass Lettland bis vor 30 Jahren auch Teil von Putins wieder herbeifantasierten Sowjetimperiums war, sondern dass in Riga rund um die Uhr 40 Prozent Russen mit 60 Prozent Letten zusammenleben. Das lässt die drei blau blinkenden Polizeifahrzeuge auf dem Trottoir des Botschaftsboulevards plötzlich eher lächerlich als bedrohlich wirken.

Auch ein Gang in die Moskauer Vorstadt Rigas, direkt hinter den Markthallen, macht die Konfliktträchtigkeit fühlbar. Neben der 108 Meter hohen Stalinburg, der in der Sowjetzeit gebauten Akademie der Wissenschaften, leuchten farbenfrohe russisch-orthodoxe Kirchen aus heruntergekommenen Häuserzeilen mit kyrillischen Schriftzeichen über verklebten Ladenschaufenstern. Es scheint, als wären die EU-Fördergelder, mit denen Rigas Altstadt herausgeputzt worden ist, nie hier angekommen. Ausser einigen ehemaligen Lagerhäusern, die zu Kultureinrichtungen umgebaut, aber teilweise schon wieder verlassen worden sind, sehen Häuser, Strassen und ihre Bewohner ärmlich aus. Eine lange Schlange von Menschen, die vor einem Lieferwagen der Heilsarmee für Essen anstehen, illustriert diesen Eindruck trefflich.

Wer durch die Innenstadt Rigas flaniert, könnte manchmal denken, in der Ukraine zu sein. Vor jedem Amtsgebäude, jeder Kultureinrichtung weht die Ukraineflagge. Auch von Türen, Schaufenstern, Trams, Autos leuchtet es blau-gelb. Für die Hunderttausenden russischstämmigen Menschen in der Stadt bestimmt eine tägliche Herausforderung.

Und doch haben wir keine Gehässigkeiten oder Anfeindungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen erlebt. In den Läden und Restaurants wird problemlos zwischen Lettisch und Russisch hin- und hergewechselt, an den Kiosken gibt‘s Zeitungen in beiden Sprachen. Trotz der konfliktträchtigen Nachbarschaft wirkt Riga friedlicher als so manche Stadt, die Tausende Kilometer von dem herrschenden Krieg in der Ukraine entfernt liegt.

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