Abseits der Komfortzone

Wer die Seele der Mongolei erkunden möchte, tut dies am besten bei einer Nomadenfamilie. Die Geschichte eines ungewöhnlichen Trips.

Text: Martin Theis    Fotos: Sascha Montag

Bevor ich in das Leben der Nomaden eintauchen kann, müssen sie mir erst einmal ein neues Pferd besorgen. Ich sitze auf einem grauen Hengst, am Rande des Gorchi-Tereldsch-Nationalparks, etwa 70 Kilometer nordöstlich der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Der Rücken des kleinwüchsigen Gauls biegt sich unter meinem Gewicht. Ich bin fast zwei Meter gross und wiege rund hundert Kilo. Meine Gasteltern machen Witze in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Der Hengst strauchelt. Nie zuvor bin ich geritten. Nun muss ich es ausgerechnet in der Mongolei versuchen, wo Pferde eine Nummer kleiner zu sein scheinen als Zuhause in Deutschland.

Abseits touristischer Trampelpfade

Der Ritt ist die erste Lektion auf dieser Reise, die verspricht eine besondere zu werden. Mit der Organisation «Ger to Ger» habe ich Urlaub bei mongolischen Nomaden gebucht. Für fünf Tage werde ich zum Teil einer fünfköpfigen Familie, lebe, esse und arbeite mit ihnen. Ich bekomme einen Einblick in ihren traditionellen Alltag, abseits touristischer Trampelpfade und der in Reiseführern ausgewiesenen Komfortzonen. Ein echtes Abenteuer soll es werden, ohne Führer, ohne Service, ohne Inszenierung.

Schon bald tut mir der Hintern weh, doch noch etwa zehn Kilometer muss ich mich im Sattel halten. Immerhin: Das neue Pferd ist fast gross genug und in etwa so leicht zu beherrschen wie ein Fahrrad. Es trabt mit mir durch eine beeindruckende Postkartenlandschaft: hellgrüne Hügel gespickt mit Lärchen und Kiefern, ein Bach fliesst entlang rauer Felsformationen, alpine Gebirgsketten erstrecken sich am Horizont.

Bald spüre ich jeden Muskel im Oberkörper und meine Zähne tun weh. Meine Gastmutter Amra, eine freundliche 33-Jährige mit rundlichem Gesicht und vielen Lachfalten, begleitet mich auf ihrem Pferd. «Okay? Okay?» fragt sie immer wieder. Ja, alles Okay. Noch neun Kilometer. Ihr Mann Bogi, 37 Jahre alt, fährt hupend mit seinem Motorrad vorbei, hinten drauf mein Rucksack. Vorne, zwischen seinen Oberschenkeln, sitzt seine einjährige Tochter Bodra, in seinem Mundwinkel hängt eine Zigarette.

Im Galopp lassen die Rückenschmerzen nach. Je schneller ich das Pferd durch die Steppe treibe, desto schwächer werden die Stösse auf meine Wirbelsäule. Als ich übermütig beschleunige und beinahe seitlich vom Pferd falle, stösst Amra einen Schrei aus. Das Pferd stoppt. Sie übernimmt die Zügel und führt mich im Spaziertempo über den letzten Hügel, hinter dem sich ein weites Tal erstreckt. Unten treiben zwei Kinder eine Schafherde vor sich her. Am Rande eines Wäldchens stehen eine handvoll Jurten, runde Zelte wie sie die Nomaden seit Jahrhunderten bewohnen. Mein neues Zuhause auf Zeit.

Ich lerne die Familie kennen

Amra und Bogi leben mit dem Baby Bodra, ihrem Sohn Ganzorig (5), dem adoptierten Batbayar (9) sowie ihrer Tochter Gerel (14) in ihrer Jurte. Seit 2011 nehmen sie Gäste auf. Das Leben auf dem Land ist beschwerlich, die Nomaden leben von ihren Ziegen, Schafen und Rindern. Fleisch und Milch verkaufen sie für wenig Geld, der Markt in der Mongolei ist übersättigt. Aufgrund dürrer Sommer und der harten Winter kann es vorkommen, dass eine ganze Herde stirbt. Für die Nomaden gleicht dies einem Bankrott. Immer mehr geben ihr traditionelles Leben auf und ziehen in die Jurtenslums, die sich um die Hauptstadt herum unkontrolliert ausdehnen. Dank den Touristen haben meine Gasteltern einen sicheren Grundverdienst, von dem sie monatlich noch etwas für die Ausbildung ihrer vier Kinder sparen.

Durch eine niedrige Holztür betrete ich die Jurte der Familie mit einem weiten Schritt. Ich habe mich vorbereitet und gelernt, dass es Unglück bringen soll, auf die Schwelle zu treten oder an den Türrahmen zu stossen. Am Rand des runden Raumes stehen zwei Betten, in der Mitte ein Kohleofen, ein Tisch und ein paar Schemel. Die Jurte besteht aus dämmendem Filz und einem Gerüst aus Holzstreben. Die äusserste Schicht bildet ein weisses Baumwolltuch. Wenn die nahen Weideplätze abgegrast sind, packen die Nomaden ihre Behausung zusammen und ziehen einige Kilometer weiter, früher je nach Region mit Pferden oder Kamelen, heute meist mit geliehenen Lastwagen.

Amra serviert Milchtee mit Gewürzen und salziges Gebäck. Ein Stück davon legt sie als Opfergabe auf einen kleinen Altar mit buddhistischen Heiligenbildern. In englischen Stichworten erklärt sie, dass im Sommer viele Gäste kommen, im Winter, bei Minus 35 Grad hingegen traue sich kaum jemand her. Aus einer Truhe holt sie ein Album hervor, darin sammelt sie bunte Geldscheine von Gästen aus aller Welt, von Nepal über Katar bis Australien. Schliesslich führt sie mich in die Gastjurte, in der vier Betten stehen. «Sleep?» fragt Amra. Ja, nach diesem Ritt schlafe ich nur zu gerne. Wegen der offenen Wunde, die ich vom Reiben des Sattels über dem Steissbein davongetragen habe, kann ich allerdings nur auf dem Bauch liegen.

Wie ist dein Sommer?

Der Tag der Nomaden beginnt um halb sechs Uhr morgens, mit dem ersten Blöken der Ziegen. Orange steigt die Sonne hinter den Bergen auf. Ich sammle etwas Feuerholz für Amra. Dann lassen wir gemeinsam die Kälber aus dem Gatter zu ihren Müttern. Nacheinander dürfen die Jungtiere kurz an den Eutern saugen, bevor Amra sich auf ihren Schemel setzt und die Mutterkühe mit flinken Bewegungen melkt. Nach der dritten Kuh bin ich dran. Ich umschliesse eine Zitze mit meinen Fingern und ziehe daran. Nichts geschieht. Amra stupst mich an und bedeutet mir kräftiger zu ziehen. Zaghaft fliessen die ersten Tropfen in den Plastikeimer, dann schliesslich ein dünner Strahl. Amra lächelt zufrieden.

Die Organisation «Ger to Ger» legt grossen Wert darauf, sich durch kulturellen Austausch auf Augenhöhe von anderen Reiseanbietern abzuheben. Das Geld, dass die Firma mit ihren so genannten «humanitären Reisen» verdient, geht laut Gründer Zanjan Fromer zu achtzig Prozent direkt an die Nomadenfamilien. Den Rest nutze die Organisation, um Berufstrainings für Nomaden zu organisieren oder sie beim Verkauf ihrer Produkte zu unterstützen. Bevor er «Ger to Ger» im Jahr 2005 gründete, arbeitete der US-Amerikaner in der Mongolei als Entwicklungshelfer. «Oft wenden sich die Dinge zum Schlechteren, wenn die Helfer aus einem Land abziehen. Ich sah die Möglichkeit, durch einen ethischen Tourismus nachhaltig etwas zu verändern.»

Dies scheint zu gelingen, die Organisation wurde für ihre Arbeit vielfach ausgezeichnet. In diesem Jahr kann meine Gastfamilie das Geld von den Touristen besonders gut gebrauchen. Der Sommer ist trocken, die Tiere finden wenig zu fressen und geben daher weniger Milch. Eigentlich, so erklärt mir Bogi, ist das Gras um die Sommerzeit fünfzehn Zentimeter hoch und saftig grün. Jetzt aber kräuselt es sich verdorrt am Boden. Weil die Nomaden vom Wetter abhängig sind, ist dieses in der Mongolei alles andere als ein banales Gesprächsthema. «Wie ist dein Sommer?» ist eine Begrüssungsformel. In Zeiten wie diesen hofft das ganze Land auf Regen.

Wegen der extremen Wetterverhältnisse wird in der Mongolei so gut wie kein Gemüse angebaut. Das typische mongolische Gericht besteht daher aus Ziegen- oder Schaffleisch und wenigen Beilagen aus Teig. Der Speiseplan der Nomaden nichts für Vegetarier. Amra hält aber für den Notfall ein paar Päckchen chinesische Instantnudeln im Küchenzelt bereit. Zum typischen Milchtee serviert sie heisses Wasser und Beutel mit Schwarztee. Dies sind Spuren, die Touristen im Lebensstil meiner Gastfamilie hinterlassen haben.

Nomaden sind nicht zimperlich

Ich habe Amra und Bogi am ersten Tag meine Hilfe angeboten und seither nehmen sie mich beim Wort. Wenn ich nicht gerade die weite, menschenleere Gebirgslandschaft erkunde oder im nahe gelegenen Fluss bade, rufen sie mich herbei und geben mir etwas zu tun. Manchmal begreife ich erst, was vor sich geht, wenn ich schon mittendrin bin. Auf einmal stehe ich in einem Gatter und um mich herum trottet dicht gedrängt eine aufgescheuchte Horde Schafe im Kreis. Amra zeigt auf eines, das ich für sie fangen soll. Ich verfolge es, packe es an den Vorderhufen und trage es hinaus. Dann kommt Bogi mit zwei Scheren aus der Jurte, schnappt sich ein weiteres Schaf und bindet den beiden die Hufe zusammen.

Während Bogi mit den Händen durch die Wolle fährt und entlang der Haut abschneidet, sieht mein Schaf bald aus, als hätte es ein Betrunkener frisiert. Die Wolle fällt in Fetzen zu Boden. Schlimmer noch: bei aller Vorsicht gleitet die Scherenspitze drei, vier Mal in die weiche Haut des strampelnden und schreienden Tieres. Adrenalin durchfährt meinen Körper und ich entschuldige mich. Doch Bogi lacht nur sein verrauchtes Lachen. Die Nomaden sind mit den Tieren nicht zimperlich – und ich bin nicht der erste Dilettant, der sich hier versucht. Das Verhältnis der Tiere zu den Besuchern ist womöglich gespalten. Beinahe 500 Gäste hatte die Familie in den vergangenen sechs Jahren, die wenigsten dürften sich mit Pferden, Schafen und Kühen besonders geschickt angestellt haben. Dafür freuen sich die Kinder noch immer über jeden Fremden, den sie als Spielkameraden gewinnen können.

Die beiden Jungs Ganzorig und Batbayar nehmen mich mit, wenn sie abends mit ihrem Handwagen zum Fluss spazieren um die Wasserkanister aufzufüllen. Unterwegs schweifen sie vom Weg ab, durchstöbern das Unterholz und präsentieren mir gefundene Käfer auf ihren Handflächen. Im Sonnenuntergang spielen wir mit der grossen Schwester Frisbee und Fussball, bis ein klarer Sternenhimmel die mongolische Steppe in silbernes Licht taucht. Nie in meinem Leben habe ich so viele Sterne gesehen. Um Mitternacht dringt aus der Jurte das Jubelgeschrei einer Sportarena, Bogi schaut Ringkampf auf dem solarbetriebenen Fernseher. Amra tritt auf das Pedal ihrer alten manuellen Nähmaschine, mit der sie bunte Gewänder und Taschen näht. Hin und wieder stimmt sie ein Lied in mongolischer Sprache an, das nach Sehnsucht klingt.

Die Tage in der mongolischen Steppe sind lang. Es gibt immer etwas zu tun, zu sehen, zu lernen. So kommt mir mein Aufenthalt vor wie eine kleine Ewigkeit. Bis der letzte Morgen anbricht. Zum Abschied überreicht mir Amra eine kleine, selbst genähte Tasche. Dann kommt Bogi auf seinem Motorrad angefahren. Er steigt ab, zeigt auf seinen Hintern, dann auf seinen Motorradsitz und streckt den Daumen nach oben. Er lacht. Ich verstehe: Heute kein Pferd. Bogi zündet sich eine Zigarette an und lässt mich aufsteigen. Die Wunde über meinem Steissbein ist fast verheilt.

Über den Autor

Martin Theis, Jahrgang 1985, wurde in Kassel geboren und studierte Rhetorik in Tübingen. Er besuchte die Zeitenspiegel Reportageschule in Reutlingen und lebt seit vier Jahren als freier Reporter. Für deutschsprachige Medien berichtete er aus Osteuropa, Asien und den USA.

Über den Fotografen

Sascha Montag, Jahrgang 1975, wurde in Halle/Saale geboren und reiste nach dem Abitur ein Jahr lang quer über den Globus. Danach absolvierte er eine Ausbildung als Sozialarbeiter und arbeitete in verschiedenen Jugendhilfeprojekten in Berlin. Nebenbei entwickelte sich immer mehr die Leidenschaft, vor allem soziale Geschichten mit der Fotokamera einzufangen. Ab dem Jahr 2002 arbeitete der Autodidakt als freier Fotograf für die Deutsche Presse Agentur, dpa und seit Ende 2008 für die Reportageagentur Zeitenspiegel. Seine Publikationen erschienen bei Spiegel, Stern, Die Zeit, NZZaS und Enorm.

www.saschamontag.de

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